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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

257–260

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

John Klug, Rebecca

Titel/Untertitel:

Kirche und Junge Erwachsene im Spannungsfeld. Kirchentheoretische Analysen und eine explorative Studie zur ekklesiologischen Qualität ergänzender Ausdrucksweisen des christlichen Glaubens.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 449 S. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 31. Kart. EUR 55,00. ISBN 9783788734503.

Rezensent:

Ralph Kunz

Rebecca John Klug, die als Landespfarrerin am Zentrum Ge­meinde und Kirchenentwicklung in der Evangelischen Kirche im Rheinland das Projekt »Erprobungsräume« leitet, stellt ihrer Greifs-walder Dissertation eine Schlüsselfrage der Fresh Expressions of Church-Bewegung (fxC) voran: »When does something become Church?« Es ist kein Zufall, dass Georg Linggs so prominent zu Wort kommt. Ekklesiogenese ist das Kernthema der fxC. Die Frage, wo Kirche bei den fxC anfängt und wo sie aufhört, gehört sozusagen zum Programm, steht nicht fest, aber ist auch nicht beliebig. Es gilt, den Ermöglichungsraum zwischen einer unproduktiven Verfestigung der Institution einerseits und einer unproduktiven Verflüchtigung von Bewegungen andererseits auszuloten oder zu er­proben. Das ist grob gesagt die Idee der entstehenden Kirche.
In der explorativen Studie der Vfn. wird der Sachverhalt, der zur Debatte steht, in theoretische Tücher gehüllt, die ein wenig feiner gewoben sind. Es geht ihr um die »ekklesiologische Qualität ergänzender Ausdrucksweisen des christlichen Glaubens«. Die Suche nach vorfindlichem Gemeindeleben jenseits und quer zu den Parochien wird verbunden mit einer sorgfältigen kirchentheoretischen Analyse. Der Vfn. gelingt damit ein wichtiger Brückenschlag. Die Verknüpfung von Analyse und explorativer Studie ist das große Plus dieser Arbeit. Begrüßenswert ist auch die ökumenisch-europäische Diskussion, die den Horizont weitet. Die Vfn. profitierte hierbei zweifellos von den Kontakten des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) an der Universität Greifswald, wo sie mit dieser Arbeit 2019 promoviert hat.
Zwar ist die Erneuerung in der Kirche von England als Impulsgeberin im Hintergrund in der Studie stets präsent. Vordergründig ist das untersuchte Feld jedoch die EKD. Die Vfn. hat sich zudem entschieden, nach Formen von Kirche zu fragen, die maßgeblich von jungen Erwachsenen geprägt sind. Mit diesem Fokus thematisiert die Studie einen Problembereich, der in der fünften KMU prominent formuliert wird. Dort werden die jungen Erwachsenen als kirchenfernste Gruppe unter den Mitgliedern beschrieben. Mit Blick auf die Entwicklung der Kirche ist dies ein beunruhigender Befund. Er wird nicht weniger beunruhigend, wenn man, wie das die Vfn. tut, einen Perspektivwechsel (375) vornimmt. Die vieldiskutierte Distanzierung der Mitglieder von ihrer Kirche wird in der von ihr gewählten Umkehrung als eine Distanzierung der Organisation vom gelebten Leben ihrer Mitglieder begriffen. Damit ist ein kritischer Ansatz der Kirchentheorie gewählt, der in den letzten Jahren mit der Forderung nach einer lebensweltsensiblen Gemeindearbeit verbunden wurde. Die vorliegende Studie setzt sich inso fern davon ab, als sie sich für ein bestimmtes Segment aus der Altersgruppe der jungen Erwachsenen und weniger an soziologisch definierten Stilgruppen in der Breite interessiert. Im Fokus sind religiös aktive junge Menschen. Man kann die Entscheidung, sich auf diesen Ausschnitt zu konzentrieren, als Schwäche sehen, der Rezensent sieht es als Stärke. Die Vfn. bleibt so nicht bei der Kritik an der Organisation stehen, um daraus abzuleiten, was diese für eine bestimmte Gruppe besser und anders machen könnte. Was ihre Studie auszeichnet, ist eine vertiefte Wahrnehmung dessen, was junge Erwachsene selbst ekklesiologisch erproben – in Form einer originellen und mit Raffinesse durchgeführten Überkreuzung vergleichbarer Übergangsphänomene, die sich im Spannungsfeld der zwei Fragen ergeben: When does something become church und when does somebody become adult?
Der gewählte Aufbau ergibt sich aus der doppelten Fragestellung des Forschungsprojekts. Nach einer instruktiven Einleitung, die einen knappen forschungsgeschichtlichen Überblick bietet, wird in Teil A der Begriff und das Phänomen »Junge Erwachsene« geklärt. Drei Aspekte stehen im Vordergrund: junge Erwachsene in der Wahrnehmung der Lebenslaufforschung, die sogenannte Ge­neration Y und die Religiosität und Kirchlichkeit junger Er­wachsener.
In Teil B wird der kirchentheoretische Ausgangspunkt des Forschungsprojekts entfaltet. Im Gespräch mit Uta Pohl-Patalong, Michael Herbst und ausgewählten Exponenten der anglikanischen Kirchentheorie (Michael Moynagh) werden Grundlagen des Kirchen- und Gemeindeverständnisses erläutert und der für die Entwicklung neuer kirchlicher Sozialformen zentrale Begriff der Mixed Economy eingeführt.
Teil C stellt die explorative Studie vor. Aufbau und Methodik ergeben sich aus den Hypothesen, die überprüft werden. Hypothese 1: »Wenn sich im Leben junger Erwachsener aktuell nur eine geringe Relevanz von Kirche beobachten lässt, dann haben von ihnen maßgeblich geprägte Ausdrucksweisen keine ekklesiologische Qualität.« (298) Hypothese 2: »Das ekklesiologische Selbstverständnis von Ausdrucksformen des christlichen Glaubens ist ein wichtiger Faktor der ekklesiologischen Qualität. Es kann sich in der Ausbildung struktureller Merkmale der Selbständigkeit äußern, ist jedoch insbesondere durch subjektive Sichtweisen und Deutungen der beteiligten Personen geprägt.« (Ebd.)
In der Auswertung der Online-Befragung wird die Ausprägungsstärke der ekklesiologischen Grunddimensionen gemessen und die Ergebnisse von Interviews in weiteren Explorationen interpretiert. Als Referenzpunkte dienen vier Dimensionen einer »Ek­klesiomatrix« (337–443), die in der Überprüfung von Hypothese 1 eingeführt wird. Dies sind im Kern vier Beziehungsdimensionen (Up, In, Out und Of) aus Mission Shaped Church (2012, 99). In der Diskussion von Hypothese 2 geht die Vfn. auf den zentralen Aspekt ein, inwiefern in den untersuchten Gruppen ein Selbstverständnis als Gemeinde vorhanden ist und welche Rolle konfessionelle Zu- gehörigkeiten und strukturelle Merkmale der Selbständigkeit spielen. In weiterführenden Explorationen kommen Aspekte wie Haupt- und Ehrenamtlichkeit und die Bedeutung von Taufe und Abendmahl sowie spezifische Erkenntnisse zur Prägung durch junge Erwachsene zur Sprache.
In Teil D werden die Ergebnisse und der Ertrag des Forschungsprojekts zusammengefasst. Dabei erweist sich insbesondere die von der Vfn. entwickelte Ekklesiomatrix als hilfreicher Zugang. Es werden auch die Grenzen des Ansatzes selbstkritisch diskutiert und in einem gehaltvollen Ausblick Anschlussfragen für künftige Forschung formuliert.
Wenn oben die Konzentration auf eine Altersgruppe als Stärke der Studie gelobt wurde, gilt das Lob entsprechend für die pragmatische Auswahl der kirchentheoretischen Gesprächspartner. Die Vfn. beschränkt sich auf das Wesentliche, gibt gleichwohl einen Überblick über die aktuelle Diskussion und bietet in den kirchentheoretischen Analysen eine reflektierte Auseinandersetzung mit den relevanten Ansätzen. Wichtig sind für die Reflexion der ergänzenden Ausdrucksformen neben den fxC die regiolokale Kirchenentwicklung, das von Uta Pohl-Patalong und Eberhard Hauschildt geprägte Denkmodell einer Kirche als Hybrid, weiter das im katholischen Kontext diskutierte Konzept der liquid church und das in jüngster Zeit aufgekommene Konzept Gemeinde auf Zeit.
Das erkenntnisleitende Interesse an der Lebenssituation junger Erwachsener lässt gewisse kirchentheoretische Prämissen und Positionen in einem anderen Licht erscheinen. In der soziologischen Aufarbeitung der Übergänge, die im jungen Erwachsenenalter zu bewältigen sind, zeigt sich ein erhebliches Potential für eine Ekklesiogenese, die auf die Verflüssigung vorgegebener Strukturen setzt. Gleichzeitig ist auch mit einem Relevanzverlust religiöser und kirchlicher Bindung zu rechnen. Übergangsreiche Lebenssituationen, wie die der jungen Erwachsenen, erweisen sich dafür besonders anfällig. Denn am Übergang ist in der Postmoderne das Individuum gefragt. »Statt allgemein anerkannter und allgemein wirksamer Ordnungsgrößen (wie Institution, Normen, Traditionen, Konventionen), gerät das Individuum in die Rolle, ordnende Kraft zu sein.« (138) Das kennt man. Aber was bedeutet es für die Kirche? Was zeigt sich davon, wenn junge Erwachsene christliche Gemeinschaft le­ben? Oder – auf Hypothese 1 bezogen – finden sich in den erforschten Ausdrucksformen in erster Linie individualisierende Tendenzen? Verwischen sich die Konturen der Kirche? Diffundieren die genannten »allgemeine[n] Ordnungsgrößen«?
Im vierten Teil der Arbeit zeigt sich, dass sich die Ekklesiomatrix als heuristisch-kritisches Instrument bewährt. Die Ergebnisse der explorativen Studie sind auf jeden Fall aufschlussreich und können plausibel begründet und erhellend kommentiert werden. So weisen alle Initiativen, bei denen sich eine ekklesiologische Qualität hat feststellen lassen, eine »verbindliche und kontinuierliche Ge­meinschaft« (368) aus. Die Generation Y ist zwar wenig interessiert an institutioneller Anbindung, aber intrinsisch motiviert, Zeit und Energie in Verbindungen zu investieren. Bei den Fällen mit ekklesiologischer Qualität ist am häufigsten die Up-Dimension (Chris-tusbezug) ausgeprägt, bei den anderen die Out-Dimension (Sendungsbewusstsein) (369). Die In-Dimension (gemeinschaftliche Interaktion) ist häufig am stärksten und die Of-Dimension (organisatorische Selbständigkeit) häufig am schwächsten ausgeprägt (372). Was das für die Kirche als Institution oder Organisation respektive Hybrid heißt, entfaltet die Vfn. auf den letzten dutzend Seiten der Arbeit. Sie sind Pflichtlektüre für alle, die an Kirchenentwicklung interessiert sind und die damit gegebene Herausforderung annehmen! Um diese Herausforderung auf eine Frage zu konzentrieren: »Wie kann sich Gemeinde in der Spannung zwischen verlässlicher Gemeinschaft und zugleich fluiden Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten zu dieser Gemeinschaft begreifen und or­ganisieren?« (380)