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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

256–257

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Domsgen, Michael, u. Tobias Foß [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Diakonie im Miteinander. Zur Gestaltung eines diakonischen Profils in einer mehrheitlich konfessionslosen Gesellschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 212 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374069279.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Worin besteht die Identität der Diakonie angesichts der Ökonomisierung des sozialen Handelns sowie einer Säkularisierung, in de­ren Folge mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden in Ostdeutschland keiner Kirche angehört? Zu diesen Fragen wollten die Herausgeber 2020 eine Tagung veranstalten, die wegen der Pandemie nicht stattfinden konnte. Das Buch enthält die geplanten Vorträge, er­gänzt durch einführende Hinweise der Herausgeber darüber, was Diakonie in der gegebenen Situation herausfordert, und einen re­sümierenden Ausblick, wie den Herausforderungen zu begegnen ist. Dem Situationsbezug dienen ferner Interviews mit dem Landesbischof der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands Friedrich Kramer, mit Ulrike Petermann, Theologischer Vorstand im Dia-konieverein Bitterfeld-Wolfen-Gräfenheinichen, sowie Christoph Stolte, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschlands. Die Interviews kommentieren und illustrieren auf interessante Weise aus der Praxis, was in den zehn Aufsätzen unter starker Berücksichtigung der empirischen Perspektive diakoniewissenschaftlich reflektiert wird.
Der Untertitel benennt die Aufgabe, in der veränderten Situa-tion ein diakonisches Profil zu entwickeln. Alternativ oder auch synonym wird von diakonischer Kultur gesprochen. »Diakonie im Miteinander« umfasst beides. Cornelia Coenen-Marx (Gesicht zeigen, 33–45) erklärt das Miteinander als »Dimension der gemeinsamen Arbeit (39). Es beinhaltet eine dreifache Beziehung: nämlich die der Mitarbeitenden zueinander mit ihren unterschiedlichen Motivationen und Einstellungen zum christlichen Glauben; ihr Verhältnis zu den Leitungskräften und nicht zuletzt ihre Beziehung zu den Adressaten des diakonischen Handelns. Die Akzeptanz eines diakonischen Profils und die Relevanz diakonischer Kultur hängen davon ab, dass sie in der Praxis als lebensdienlich erfahren werden. Deklarierte Werte sind so plausibel wie ihre Erfahrbarkeit im Alltag. Michael Bartels und Johannes Eurich plädieren angesichts von religiöser Indifferenz für Diakonie als Ort religiöser Sozialisationsanbahnung, in der die Christen nicht Lehrende, sondern Lernende sind. Thorsten Moos fragt, wie »Diakonische Kultur unter den Bedingungen von Ökonomisierung und Säkularisierung« möglich ist (79–94).
Die Schwierigkeit, im Kontext einer mehrheitlich konfessionslosen Gesellschaft christliche Motive in die Praxis einzuführen, zeigen besonders die Beiträge von Tobias Foß (»Veränderung im Diesseits« – Konfessionslosigkeit und diakonisches Profil in empirischer Perspektive, 19–31) und Sabine Blaszyk (»Müssen wir jetzt beten?«, 113–126). Sie untersucht einen von der Diakonie übernommenen Kindergarten in Sachsen-Anhalt. Von zwölf Erzieherinnen gehören acht keiner Kirche an. Sie sind mit der kirchlichen Trägerschaft einverstanden, weil sie zu keinen religiösen Handlungen gedrängt werden. Bei den kirchlich verankerten Fachkräften entstand jedoch Frustration, weil sich die Kultur der Konfessionslosigkeit als stabil erwies und die Kultur der Konfessionsmitgliedschaft stärker beein flusste als umgekehrt. Das Beispiel legt die Frage nahe, ob und wann die Diakonie sich selbst überfordert, wenn sie die Trägerschaft für Einrichtungen übernimmt, in denen ein genuin diakonisches Profil nicht realistisch ist.
Eine Voraussetzung dafür, dass ein diakonisches Profil oder eine diakonische Kultur den Geist einer Einrichtung prägt und von den Mitarbeitenden sowie den Adressaten positiv erfahren wird, ist eine genügende Zahl von Menschen (»Ankermenschen«), die ihren Dienst durch die Inhalte dieses Profils oder das Wesen dieser Kultur motiviert tun. Die Atmosphäre des Hauses wird wesentlich durch sie bestimmt. Aus den Beiträgen dieses Buches folgt dringend die Frage nach der Begrenzung von Quantität zugunsten der Qualität diakonischer Arbeit. Dafür ist die Frage nach Identität und Profil von Diakonie grundlegend. Ulrich H. J. Körtner setzt diese Frage in Beziehung zur Öffentlichen Theologie und zur Theologie der Diaspora (65–78). Michaela Gloger und Harald Wagner zeigen aufgrund der Bildungsinitiative der Diakonie Mitteldeutschland die Bedeutung von Bildung für diakonische Profilbildung (97–111). Christian Frühwald bevorzugt den Begriff »diakonische Kultur« vor »diakonisches Profil« und gibt Hinweise für die Leitung in der Diakonie (127–137). Ulf Liedke expliziert das »Miteinander« hinsichtlich des multirationalen Managements, in dem die Theologie Anwältin für das Profil ist (139–153). Klaus Scholtissek reflektiert kritisch seine »Erfahrungen in der diakonischen Geschäftsführung« (Wenn Theologie auf Praxis trifft, 155–172). Drastisch be­schreibt er die Komplexität der Anforderungen, endet aber mit dem Hinweis auf die Chancen für das eigene Profil, die in der Heiligen Schrift be­zeugt sind.
Im Blick der Autorinnen und Autoren steht fast nur die Unternehmensdiakonie, die sich der Konkurrenz auf dem Markt der Sozialwirtschaft stellen muss. Lebens- und Wesensäußerung der Kirche ist aber auch die Gemeindediakonie außerhalb der kommerziellen Angebote. Wie ist das diakonische Profil einer Orts­-gemeinde zu gestalten? Welche Ressourcen stehen der Gemeindediakonie zur Verfügung? Der religionspädagogische Aspekt, den die Herausgeber mit gutem Grund betonen, ist für die Gemein-dediakonie besonders bedeutsam. Dabei sollten die biblischen Grundlagen stärker zur Geltung kommen als in den vorliegenden Beiträgen. Die empirische Wahrnehmung des gesellschaftlichen Kontextes und die Besinnung auf die spirituellen Ressourcen des hel­fenden Handelns gehören in der Diakonik zusammen. Das Buch ist ein dankenswerter Beitrag dazu, das »Miteinander« auch im Verhältnis von (Praktischer) Theologie und diakonischer Praxis zu stärken.