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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

254–255

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Siegwalt, Gérard

Titel/Untertitel:

La réinvention du nom de Dieu. Où donc Dieu s’en est-il allé?

Verlag:

Genf: Labor et fides, Genf 2021. 176 S. = Résonances théologiques. Kart. EUR 18,00. ISBN 9782830917413.

Rezensent:

Fritz Lienhard

In diesem Buch erläutert der Dogmatiker Gérard Siegwalt kurz und prägnant die heutige Gottesfrage. Es geht darum, »Gott neu zu denken« (9). Diese Aufgabe findet im Kontext der Gottvergessenheit der Gesellschaft statt. Die Säkularisierung führt zur Unkenntnis, wenn nicht der Worte der Religion, so doch zumindest ihrer Bedeutung. Aber die Grundlagen der Moderne, die mit dem Atheismus verbunden sind, werden selbst durch die ökologische und klimatische Katastrophe, die Situation der globalen Ungerechtigkeit und die Verlorenheit des Menschen erschüttert. In der Tat geht das Vergessen Gottes Hand in Hand mit dem Vergessen der Einheit der Wirklichkeit als Schöpfung und der Reduzierung der Herausforderungen auf funktionale Fragen. Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes führt aber auch zur Verwerfung eines falschen Gottesverständnisses, das S. (in Anlehnung an Tillich) als Supranaturalismus bezeichnet und das andere Traditionen als Theismus bezeichnen. Der Supranaturalismus stellt Immanenz und Transzendenz einander gegenüber und objektiviert »Gott« in einer falschen Äußerlichkeit. Dies führt zu einer Vorstellung von der Hierarchie des Seins, in der Gott eine Schlüsselfunktion einnimmt.
In diesem Zusammenhang kann das Umdenken über Gott nur in Form eines Schreis erfolgen. Gott kann man nur stammeln. Aber dieser Schrei ist ein Ruf, aus dem sich ein Prozess der Neuerfindung des Namens Gottes ergibt. Um sein Geheimnis zu begreifen, geht es nicht darum, eine bestimmte Religion vorzuschlagen, sondern um einen religiösen Glauben, eine Beziehung zu den Grundlagen der Wirklichkeit und damit zu Gott. Man kann auch von Gottesfurcht sprechen, im Sinne von Respekt oder Verehrung, oder vom »Erstaunen über den unergründlichen und immer neuen Charakter der Wirklichkeit« (79). In einem zweiten Schritt geht es darum, den Schrei mit den religiösen Traditionen und ihrem Zeugnis von Gott zu verbinden, um »den Namen Gottes heute zu gebären« (144). In dieser Perspektive wird die gegenwärtige Krise der Zivilisation als ein Gericht Gottes selbst dargestellt, der einen Sachverhalt feststellt. Der Schöpfer und Erlöser Gott »erneuert, stellt wieder her, berichtigt, lässt auferstehen, heilt« (49) aus dem Chaos, in diesem Fall aus den Trümmern der Gesellschaft und der Kirchen. S.s Herausforderung besteht also darin, die Wirklichkeit in ihrer Einheit und damit als Schöpfung Gottes in einem von seinem Ausgangspunkt her universellen Ansatz neu zu denken. In der Debatte zwischen Supranaturalismus und moderner, autokratischer Vernunft schlägt S. in der Tradition Tillichs eine dritte Position vor, die der Theonomie. Sie führt zu einer Vernunft, die vor einer anderen Instanz als sich selbst verantwortlich ist, ohne ihre Autonomie aufzuheben, und überwindet die Alternative zwischen Gott und Vernunft. Ein solcher Gott ist in seiner Art, schöpferisch zu sein, sowohl persönlich als auch transpersonal. S. weist darauf hin, dass Gott auch persönlich ist, was es ermöglicht, ihn im Gebet anzusprechen. Der biblische Gott ist in der Tat lebendig und persönlich. Das Subjekt, das in »Ich« spricht, steht in Beziehung zu diesem lebendigen Gott. Gleichzeitig stellt sich Gott als ein Universelles dar, »ein Objekt der Evidenz des denkenden Geistes« (142). Im Rahmen der Trinität ist er sowohl transzendent als auch immanent. Er ist transzendent als Vater, immanent als Sohn und gegenwärtig als Geist (24).
Dieser Ansatz hat Konsequenzen für die kirchliche und theologische Praxis. Das Ringen mit dem Atheismus enthüllt dessen Wahrheit, so dass es keinen Anachronismus oder ein Rückzugsgefecht darstellt. Wer über den Glauben Rechenschaft ablegt, antwortet auf seine Anfechtungen mit einem Austausch. Es geht nicht darum, das letzte Wort zu haben, sondern darum, »gemeinsam mit dem Partner bei der Erforschung der gestellten Frage voranzukommen« (61). Es geht dabei darum, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, damit das Gute über das Böse triumphieren kann. Auch d ie Theologie ist aufgerufen, sich weiterzuentwickeln und vom Supranaturalismus zu einer Theologie der Glaubenserfahrung überzugehen, deren Nährboden die Mystik ist. In methodischer Hinsicht schließlich besteht die theologische Arbeit darin, eine Dimension der Wirklichkeit herauszuarbeiten, um die Frage nach Gott darin zu klären, was dazu führt, dass ein bestimmter Kontext in einer empirischen Perspektive untersucht wird.
Dieses Buch ist für jedermann besonders zugänglich. S. macht deutlich, was sein theologischer Ansatz ist und schon immer war. Natürlich gibt es Punkte, mit denen ich nicht einverstanden bin, zum Beispiel wenn S. religiöse Ignoranz mit der Neutralität des Staates verbindet (53). In ähnlicher Weise denke ich, dass wir heute Universalität eher als ein Netzwerk von Besonderheiten betrachten sollten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es eine Kontinuität zwischen einer philosophischen Suche nach der Einheit der Wirklichkeit und dem Bekenntnis zum Schöpfergott gibt. Aber ich bin S. dankbar für seine Suche nach einem Gleichgewicht, zum Beispiel zwischen dem persönlichen und dem transpersonalen Gott oder der Transzendenz und Immanenz des dreieinigen Gottes. Auch sein theologischer Ansatz ähnelt sehr dem einer praktischen Theologie. Die Suche nach Gott jenseits des Supranaturalismus und der Gottesvergessenheit ist heute Gegenstand theologischer Reflexion, und S.s Beitrag ist dabei wichtig.