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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

246–248

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Haudel, Matthias

Titel/Untertitel:

Theologie und Naturwissenschaft. Zur Überwindung von Vorurteilen und zu ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis.

Verlag:

Göttingen: UTB Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 486 S. = utb. Kart. EUR 24,90. ISBN 9783825255619.

Rezensent:

Lukas Ohly

Vielleicht gab es nie eine Epoche, in der nicht zumindest implizit der Zusammenhang zwischen Naturerkenntnis und Theologie verhandelt wurde, und sei es auch nur, um die Unabhängigkeit beider Denkformen zu konstatieren, Religion für überwindbar zu erklären oder umgekehrt die Irrelevanz naturwissenschaftlichen Wissens für den religiösen Schöpfungsglauben festzustellen. Im gegenwärtigen deutschsprachigen Diskurs unterstützt inzwischen auch eine Gruppe namhafter Theologen eine aufgeschlos-sene Haltung zum konstruktiven Dialog, ebenso wie Naturwis-senschaftler ihre Forschung mit religionsphilosophischen oder theologischen Perspektiven vermitteln. In dieser Gemengelage un­terschiedlicher Verhältnissetzungen positioniert sich H. sehr deutlich, wie s. E. der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften auszusehen hätte. Er durchschaut nicht nur die wechselseitigen Vorurteile gegen die jeweils andere Disziplin, sondern er­kennt zwischen beiden Herangehensweisen einen Kompatibilismus (190 u. ö.) und eine Konsonanz (41 u. ö.).
Das Lehrbuch ist für den Gebrauch klug in konzentrischen Kreisen aufgebaut: Die Kapitel gehen fortlaufend stärker ins Detail und lösen Erwartungen der Vorgängerkapitel ein. Werden in den An­fangskapiteln viele Thesen durch Reihungen von Zitaten unterschiedlicher Autoren relativ unbegründet aufgestellt, vertieft H. seine Diskussion vor allem in den Kapiteln VI und XI. Bei diesem Aufbau ergeben sich etliche sachliche (zu Schleiermacher und Ulrich Barth (20.29.101 f.159.247 u. ö.) und sogar sprachliche Redundanzen (dasselbe Bultmann-Zitat erscheint 29.158.424 u. ö.), was sich als Materialbuch zur Examens- oder Unterrichtsvorbereitung a ber vorteilhaft auswirken dürfte. Insbesondere die Kurzdarstellungen zur Relativitätstheorie und Quantenphysik (Kapitel VI) sind ausreichend elementarisiert und verständlich erklärt. Am Anfang der Kapitel und längerer Sektionen sind in Kästen zusammenfassende Thesen vorangestellt, die im weiteren Text erläutert werden. Die Verzeichnisse lassen nichts zu wünschen übrig. Besonders sticht hervor, dass H. wegweisende Konzeptionen der Gegenwart (Evers, Mühling, Fuchs, Barbour, Polkinghorne) darstellt. Die Leser erhalten so ein aktuelles Zwischenfazit aus einem laufenden Prozess und nicht wie bei etlichen anderen Lehrbüchern eine Zu­sammenfassung vergangener Diskurswelten.
Man könnte versucht sein, das Buch als Dogmatik mit ande-ren Mitteln zu verstehen, denn insbesondere die lehrbuchhaften Anteile referieren zentrale Loci der Systematischen Theologie, neben der Schöpfungslehre die Lehrstücke De Homo (82 ff.316 ff.), De Fide (108), De Revelatione (45 u. ö.), De Providentia (344), De Trinitate (295 u. ö.) mit Sequenzen zu den Gottesbeweisen (112–118) oder der Theodizee (330 ff.). Vor allem aber liegt die Pointe der Vermittlung aus Naturwissenschaft und Theologie in der Versöhnungs- und Erlösungstheologie, also in der Heilsgeschichte (293–297 u. ö.). Der stark referierende Stil darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass H. eine konturierte Position über das Zu­sammenspiel der Wissenschaften vertritt, die ich hier in den Blick nehmen will.
Denn mit der Quantenphysik sei sowohl das deterministische Prinzip (168) als auch der Atheismus (43) der Naturwissenschaften geschwächt worden: Wieder im Referatsstil bringt H. ein, dass demgegenüber ein Theismus plausibler erscheine (313.317.345), was m. E. nicht nur einen Angriff auf den weltanschaulichen Atheismus darstellt, sondern auch auf einen methodischen (im Gegensatz zu 91 u. ö.). Ist das nur Referat oder auch H.s eigene Position? Dieselbe Frage könnte man zur Kompatibilitätsthese stellen: Die quantenphysikalische Eröffnung von Möglichkeiten lässt Gott den Freiraum, ohne Eingriff in die Naturgesetze »den Input reiner In­formation« zu vollziehen (300). Diese Vorstellung werde von mehreren Theoretikern unterstützt (205.300.340.378). Bevor man sich darauf jedoch einlässt, sollte man m. E. die Metapher »Information« überprüfen.
Solche Modelle zeigen an, wie H. den Dialog zwischen den Wissenschaften versteht: Trotz der Beteuerung eines wechselseitigen Interesses beider Disziplinen scheint mir das Verhältnis asymmetrisch zu sein. Die Naturwissenschaften geraten nämlich mit dem deterministischen Prinzip an Grenzen, und zwar nicht nur an Erklärungsgrenzen (92 f.96 u. ö.), sondern auch an die Schwelle der »Ahnung« für Gott (45.77 f.80.97 f.101.189.245.249). Sie lenken inzwischen ihren Blick nicht nur »auf die Offenheit und Ganzheit des Seins« (77), sondern benötigen auch eine Ergänzung durch teleologische Wirklichkeitsbeschreibungen (92.94–96.249, als Verweis auf Gott, 315). Einen Lückenbüßergott wiederum will H. nicht bemühen (250), weil er eine natürliche Theologie ablehnt (45.302). Gott muss vielmehr in seiner Selbsterschließung qua Offenbarung er­fahren werden (45.100 f.). Dennoch scheint mir auch H.s »Theologie der Natur« (45, Herv. M. H.) von einem Dialogverständnis getragen, bei dem die Naturwissenschaften an Grenzfragen geraten und die Theologie die Antworten gibt. Hier wird m. E. doch ein Lückenbüßergott bemüht, weil die Antworten der Theologie kategorial andere sind als Hypothesen auf naturwissenschaftliche Probleme. Die Theologie mag zwar beschreiben können, wie sich Gottes Liebe in der Welt ereignet (297), aber ob damit eine Zielbestimmung derselben Art gefunden worden ist, für die in den Naturwissenschaften ein Bedarf besteht, lässt sich ohne zirkuläre Selbstverweise we-der theologisch noch naturwissenschaftlich behaupten. Somit verlangt auch die angenommene Kompatibilität eine dritte Perspek-tive, »Brücke«, die H. in der (spekulativen?) Philosophie findet (42. 241).
Ohne eine solche Vermittlung besteht zwischen den Bedarfen der Naturwissenschaft und den Angeboten der Theologie allenfalls eine assoziative Verbindung. Ist die thermodynamische »gerichtete Geschichtlichkeit« wirklich eine »Analogie zum ›psychologischen Zeitpfeil‹«, die »entsprechend die religiösen Fragestellungen« berührt (231, Herv. M. H.)? Braucht die Mathematik durch Gödels Unvollständigkeitstheoreme »Kriterien von außen« in dem Sinn, dass »so« auch »der umfassende transzendente Rahmen von Religion und Theologie in den Blick geraten kann« (232)? Oder steckt hinter solchen Thesen doch eine natürliche Theologie, die sich durch das anthropische Prinzip begründen ließe, wonach das Universum so beschaffen sein muss, dass es die Existenz von Beobachtern zu­lässt (306)? Könnte im anthropischen Prinzip bereits die theistische Wahrscheinlichkeit begründet liegen, weil H. zufolge die Entstehung des Universums ohne Zielgerichtetheit ausgesprochen un­wahrscheinlich gewesen sei (307–316)?
Zumindest fällt auf, dass es in diesem Buch nicht umgekehrt ist und die Theologie an Grenzen stößt, die sich kompatibilistisch durch die Naturwissenschaften überwinden lassen. Die Theologie gewinnt zwar über die Naturwissenschaften Relevanz (426), aber keine Lösungen. Der offenbarungstheologische Zugang schirmt die christlichen Narrationen vor explikativen Eingriffen »von außen« ab. Aber auf eine theologische Frage hätte ich dann doch gerne eine Antwort bekommen: Wenn mit der Relativitätstheorie die Zeit an das jeweilige räumliche System gebunden ist, wie kann dann Gott den für alle Raumzeiten kompatiblen heilsgeschichtlichen Rahmen zugleich setzen (294)? Und was kann hier »zugleich« bedeuten?