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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

237–242

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Szlezák, Thomas Alexander

Titel/Untertitel:

Platon. Meisterdenker der Antike.

Verlag:

München: C. H. Beck 2021 (2., durchges. Aufl. 2021). 779 S. Geb. EUR 38.00. ISBN 9783406765261.

Rezensent:

Lutz Käppel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Szlezák, Thomas A.: Aufsätze zur griechischen Literatur und Philosophie. Baden-Baden: Academia Verlag (Nomos) 2019. 777 S. = International Plato Studies, 39. Geb. EUR 149,00. ISBN 9783896657459.


Der Gräzist Thomas A. Szlezák – zunächst Student bei W. Schadewaldt in Tübingen, dann Schüler W. Burkerts in Zürich, schließlich Ordinarius in Würzburg und Tübingen, nunmehr Emeritus ebendort – hat mit seinen Kleinen Schriften ein Kaleidoskop seiner Be­schäftigung mit der klassischen griechischen Literatur vorgelegt. Vor allem aber enthalten sie wichtige Vorarbeiten und Detailanalysen aus dem Hauptfeld seiner Forschungen, die zu einem großen Teil die Grundlage für das zweite hier zu besprechende Buch bilden: Platon. Einen Platz in der ThLZ verdienen diese Bände insofern, als Platon seit Friedrich Schleiermacher auch und gerade ein Thema der Theologie ist – war es doch letzten Endes Schleierma cher, der dem antiken Philosophen mit der epochemachenden Übersetzung und Erklärung seiner Werke eine prominente Stellung verschafft hat. Und die Kritik am Platon-Exegeten Schleiermacher wiederum bedeutet auch für die Arbeiten S.s einen, wenn nicht den Dreh- und Angelpunkt vieler Argumentationen.
Zunächst zum Band der Kleinen Schriften. Er enthält 35 Beiträge aus den Jahren 1980–2019, von denen sieben Aufsätze Themen der frühen griechischen Dichtung behandeln. Bemerkenswert ist hier vor allem der Vergleich zwischen der Ilias und dem Gilgamesch-Epos (Nr. 1, 13–36), der als Ergebnis die schon von W. Burkert nachgewiesene motivische Abhängigkeit des griechischen Epos vom Vorgänger aus dem Orient anerkennt, aber eben auch, im An­schluss an W. Schadewaldt, das Neue im homerischen »Humanis mus« hervorhebt, der eher die »menschliche Schwäche« betone, während der »Humanismus« des Vorgängers »noch Raum für menschliche Leistung und Stolz« (36) gelassen habe.
Unter den Beiträgen zur griechischen Tragödie dokumentiert wohl am besten »Sophokles oder die Freiheit eines Klassikers« (Nr. 4, 84–122) die Sicht S.s auf diesen Tragiker. Er sieht Sophokles als einen konservativen, im Kern politischen, aber nicht tagespolitisch Stellung nehmenden Dichter: Er halte »sich frei von demokratisch-patriotischem Chauvinismus« (119), »von jeder Glorifizierung des Demos, […] von Fortschrittsglauben, […] von fortschrittlicher Religionskritik, […] von demokratischer Gleichmacherei« (120). Stattdessen reflektiere er gleichsam philosophisch die Bedingungen von Politik, das Vor-Politische: das Familiäre, die Freundschaft, das Verhältnis zu Gott.
Bereits mit dem achten Beitrag beginnt dann der eigentlich philosophische Teil. Bemerkenswerterweise erfolgt der Einstieg nicht chronologisch, sondern mit aristotelischen Themen (Nr. 9 zum »Alpha elatton« der Metaphysik), die aber schnell zu Platon hinübergleiten (schon Nr. 10 zu den »akademischen Prinzipientheorien« in Met. M und N). Dieser Zugang zu Platon über Aristoteles bildet geradezu programmatisch den geistigen Weg S.s zu den platonischen Dialogen ab. Als Vertreter der sogenannten »Tübinger Schule« der Platoninterpretation (Protagonisten waren die Schadewaldtschüler Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser), setzt er wie diese eine innerakademische Prinzipientheorie an. Sie war von Krämer und Gaiser als mündliche, von den schriftlich veröffentlichten Dialogen unterschiedene »Ungeschriebene Lehre« Platons (die sogenannte ἄγραφα δόγματα) aus Zeugnissen des Aristoteles (vor allem Met. A6, M und N) sowie späteren Nachrichten rekonstruiert worden, jedoch früh auf scharfe Kritik gestoßen, die bis heute anhält. S. ist nun insofern ein Fortsetzer dieser prinzipientheoretischen Platondeutung, als er ebendiese ἄγραφα δόγματα in der von Gaiser und Krämer rekonstruierten Form voraussetzt und mit kronkreten Interpretationen der Dialoge ihrer Existenz Rechnung zu tragen versucht. Dabei spielen immer wieder zwei Strategien eine zentrale Rolle: 1.) Dialoginterpretationen, die als zentrales Moment die Beschränktheit jeglicher schriftlicher Mitteilung (vgl. Plat. Phaidros 274b–277a) zum Anlass nehmen, Platons »eigentliche« philosophische Auffassung in die mündliche Lehre im Sinne eines »höheren« Wissens zu verweisen und in den Dialogen eben dieses Wissen »ausgespart« sein zu lassen. Die dadurch erzeugte Hierarchie des Wissens erzeugt dann eine scharfe Trennung zwischen einem wissenden Dialektiker und einem philosophischen Laien, der in das eigentliche philosophische Wissen nicht eingeweiht ist, weil er an dem innerakademischen (»esoterischen«) Expertenwissen keinen Anteil hat. 2.) Kritische Demontagen von Interpretationsansätzen, die ohne eine »Ungeschriebene Lehre« operieren, allen voran dem Ansatz Friedrich Schleiermachers, den S. als den wirkungsmächtigen Archegeten aller modernen (»anti-esoterischen«) Platondeutungen immer wieder besonders ins Visier nimmt.
1.) Während S.s Dialoginterpretationen im Wesentlichen in zwei umfangreichen Monographien (1985, 2004) vorliegen, findet man jetzt die Mosaiksteine des weiteren Argumentationsnetzes aufgereiht über den Rest des Bandes: Die platonische Prinzipientheorie in der Darstellung des Aristoteles wird in den Beiträgen Nr. 9, 10, 11, 34 behandelt. Der Schriftkritik im Phaidros und der Mündlichkeit platonischer Philosophie widmen sich Nr. 13, 14, 17, 18, 19, 32. Den »Aussparungsstellen« und dem Konzept der »Hilfe für den Logos durch ›höheres‹ Wissen« in den Dialogen gelten Nr. 15, 16. Details der Prinzipientheorie und ihre Realisierung in den Dialogen kommen in Nr. 27, 28, 29, 30 zur Sprache. Überblicke über das Gesamtkonzept einer angemessenen Hermeneutik der platonischen Dialoge bieten Nr. 22, 35. 2.) Auch S.s Kritik an den Gegnern der An-nahme einer mündlichen, innerakademischen Prinzipientheorie findet breiten Raum: Nr. 20 (Vlastos), vor allem aber Nr. (12), 22, 23, 24, (35), die allesamt ausschließlich oder im Kern die Kritik des Ansatzes Friedrich Schleiermachers entfalten. All die genannten Aufsätze bilden neben den beiden Büchern über die Dialoge gleichsam die Elemente, die S. jetzt in seinem neuesten Buch zu einem geschlossenen Platon-Bild zusammenzudenken unternommen hat, um Platon damit als »Meisterdenker der Antike« zur Geltung zu bringen.
Schon der Titel Platon ist programmatisch: Nicht eine Interpretation der Dialoge, sondern eine Darstellung des »Meisterdenkers« selbst ist das Ziel. So erscheint es nur auf den ersten Blick als konventionell, wenn das Buch mit dem »Leben« (Teil I: 15–92) beginnt. Denn Platons Leben wird hier in vielerlei Hinsicht als Grundlage für den später entfalteten »esoterischen« Platon etabliert: Platon als konservativer Aristokrat, Platon als Demokratie-Skeptiker, Platon als Anhänger des Sokrates, Platon als Vorsteher der Akademie, Platon als politischer Akteur in Syrakus. All diese Facetten setzen aus den spärlichen Nachrichten (und vermeintlich geeigneten Passagen aus den Dialogen) ein Platonbild zusammen, das direkt auf einen ganz bestimmten Typus von »Meisterdenker« zuführt. Ich greife nur zwei signifikante Beispiele heraus: S. beschreibt Sokrates nicht als Provokateur und kritischen Disputanten in der athenischen Öffentlichkeit, der mit rationalen Argumenten eingefahrene Denkgewohnheiten infrage stellte, sondern als gleichsam charismatischen »Lehrer« eines »Kreises« von begeisterten Anhängern, die sich – wie es Alkibiades im Symposion sagt – durch seine Worte wie »von einer Schlange gebissen« fühlten (Plat. Symp. 217e–218a; 44). Sokrates werde zudem in den Dialogen immer wieder als jemand beschrieben, der »fremdes Wissen aus religiösem Kontext« (45) beziehe. So gelange man »zu einem ganz anderen Sokrates-Bild: zu einem Sokrates, der, in Anlehnung an bestehende Mysterien […], in seinem Kreis eigene, philosophische Mysterien einführte« (45). Überhaupt hat es S. auf charismatische Beziehungen abgesehen. Ähnlich fasst er z. B. auch Platons Verhältnis zu Dion, seinem späteren philosophischen Schüler aus Syrakus, als erotisches Verhältnis (84 f.). Hier wie dort also spielt die Nähe zwischen Lehrer und Schüler im engen, bisweilen engsten Kreis die entscheidende Rolle. Schon hier im Biographischen etabliert S. also ein soziales Ambiente – sowohl in der Prägung durch Sokrates als auch im späteren Wirken –, das das (platonische) Philosophieren an die persönliche Bindung von Schülern an ihren Meister knüpft. Da ist es nur folge richtig, dass die Vermittlung von »eigentlichem« Wissen nur im persönlichen Kontakt erfolgen kann. Diesen Sachverhalt entwickelt S. aus dem Siebten Brief, der beschreibt, weshalb Platon diesen Kern des Wissens nicht der Schrift anvertrauen wollte: Dionysios I., der Tyrann von Syrakus, war ein zwar begeisterter, aber in den Augen Platons nur mäßig begabter Anhänger der Philosophie. Gleichwohl verfasste er über das von Platon Gehörte selbst eine Schrift. Platon war über diesen Vorgang empört, weil ihn nur »schändlicher Ehrgeiz« dazu getrieben habe. Anhand dieses konkreten Falles entwickelt dann der Siebte Brief die Gründe, weshalb das »Ernsthafteste« der Philosophie nicht in Schriften festgehalten werden und verbreitet werden dürfe. S. nimmt auch diese Passage zum Anlass, die Schriftkritik historisch-biographisch zu verankern: Wertvolles Wissen gehöre nicht in ungeeignete Hände, sondern nur in solche, die der »Meister« persönlich in mündlicher Prüfung für gut befunden hat – wie der Fall Dionysios beweist.
Auch das vergleichsweise kurze Kapitel über das »Werk« arbeitet in diese Richtung. Dreh- und Angelpunkt bildet hier eine Kritik des Platonbildes Friedrich Schleiermachers, der mit seinen Übersetzungsbänden »Platons Werke« (6 Bde. 1804 ff., 2. Aufl. 1817 ff.) ein Grundwerk der deutschsprachigen philosphischen Literatur geschaffen hat. (KGA IV/3–8, bislang erschienen KGA IV/3 [2016] und IV/5 [2020] – leider von S. nicht berücksichtigt).
S. identifiziert in Schleiermachers Auffassung von der Hermeneutik des Platonischen Dialogs den Ausgangspunkt für die Fehlentwicklung der modernen Platonforschung insgesamt (196–217 und passim; s. o. Aufsätze). Dabei sei – so S. im Anschluss an Krämer – Schleiermachers Ansatz im Grunde nichts anderes als eine implizite Übertragung der philosophischen Prämissen Friedrich Schlegels auf den platonischen Dialog (Stichwort: »Frühromantik: Unendliche Annäherung«). Der Vorwurf gegen Schleiermacher lautet insbesondere, dass er – im Zuge eines »egalitären Zeitgeist(es) nicht erst im 21. Jh., sondern schon seit der Französischen Revolution« (165) – dem Leser selbst im Zuge der Lektüre der Dialoge die Ausbildung eigenständiger Gedanken zutraute. Denn Schleiermacher sieht in der Tat den Sinn der Dialogform in der Nachahmung des mündlichen Philosophierens. Der schriftliche Dialog sollte der durchaus besseren (mündlichen) Lehre ähnlich gemacht werden. Die mündliche Lehre dagegen, von der Aristoteles berichtet, enthält für Schleiermacher »keinesweges etwas in unseren Schriften unerhörtes oder gänzlich von ihnen abweichendes« (KGA IV/3, 27).
Schleiermachers Platonübersetzungen waren zwar in der Tat von F. Schlegel initiiert worden, doch kam es schnell zum Bruch zwischen den beiden, und zwar nicht nur wegen der Säumigkeit Schlegels, sondern gerade aus methodischen Gründen. Für Schlegel (und insbesondere die spätere Schleiermacherrezeption) mögen daher S.s Kritikpunkte durchaus greifen, für Schleiermacher selbst scheinen sie überzogen, und – in der Konsequenz von S.s eigenem Ansatz – auch ungerechtfertigt. Denn Schleiermachers Ausgrenzung der mündlichen Tradition war keineswegs inhaltlicher, sondern eher methodischer Natur. Sie diente der Aussonderung späterer Überformung (so wie er die stoische Überformung aus dem Heraklit heraushalten wollte: siehe KGA I/6, 101–241). Überhaupt diente seine Erklärung vornehmlich der Beantwortung der Frage nach dem Sinn der Dialoge, nicht der Frage nach dem »System der platonischen Philosophie« (so W. G. Tennemann 1792–1795, von Schleiermacher übrigens mit großer Wertschätzung immer wieder benutzt und keineswegs bekämpft). Im Nachvollzug der Dialoge sollte beim Leser über »fortschreitende Wechselwirkung und das tiefere Eindringen in die Seele des Hörenden« (KGA IV/3, 30) philosophisches Denken dargestellt, um nicht zu sagen: nachgeahmt werden (KGA IV/3, 52–59). Allerdings wollte er methodisch keine »Aussparungsstellen« zulassen, die den Leser in ein »Schwarzes Loch« der Ungeschriebenen Lehre verweisen, weil dies seiner Prämisse von der Unzertrennlichkeit von Inhalt und Form und der Hermeneutik vom Ganzen und seinen Teilen widersprach. Dass hinter dem schriftlichen Kunstwerk eine mündliche Philosophie existiert hat, leugnet er keineswegs; nur ist er eben Nachrichten späterer Nebenüberlieferung erst dann einzubeziehen bereit (wie z. B. KGA IV/5, 23 f.), wenn sie im schriftlichen Text plausibel kontextualisierbar sind. Dass er über diese Nachrichten zum damaligen Zeitpunkt nicht in einer für ihn quellenkritisch hinreichend aufgearbeiteten Form verfügte, kann man ihm nicht ernsthaft vorwerfen. Seine Abwehr von seinerzeit aktuellen unkritischen neuplatonisch-spekulativen Platondeutungen (wie z. B. der von Christoph Meiners) erscheint aus heutiger Sicht methodisch absolut berechtigt.
S.s eigene Dialogtheorie greift demgegenüber vergleichsweise kurz. Es ist natürlich völlig richtig, dass der platonische Dialog nicht einen im modernen Sinne »dialogisch« sich vollziehenden Erkenntnisfortschritt von auf Augenhöhe diskutierenden Dialogteilnehmern darstellt. Als dialektischer Vorgang kann in der Tat nur ein durch die Methode der Dialektik gesteuertes Denk-Verfahren (Dihairesis und Synagoge: 279–286), sozusagen in einem »Ge­spräch der Seele mit sich selbst«, zu philosophisch validen Ergebnissen führen. Aber dies erklärt noch nicht die Wirkungsabsicht des Dialogs auf einen Leser. Ist es wirklich »Freude am Spiel« (d. h. die Freude des Autors: 220 u. ö.), wie es S. im Anschluss an die Schriftkritik am Ende des Phaidros formuliert? Dann wäre ein Leser ganz außen vor. Oder »Protreptik« (221), d. h. Werbung für die Philosophie, wie er es im Anschluss an K. Gaiser auch für möglich hält? Auch »hypomnematische« Funktion mögen die Dialoge in der Akademie in Nachhinein durchaus erhalten haben, um bestimmte Gesprächsverläufe schulmäßig nachzuvollziehen. Welchen Sinn aber könnte es für ein öffentliches Publikum haben, immer und immer wieder die Überlegenheit des Dialektikers gegenüber dem Unkundigen durchzuspielen (insbesondere, wenn wir uns auch den Leser als einen solchen Unkundigen vorzustellen haben)? Und was bezwecken die »Aussparungen« in diesem Zusammenhang, wenn sie außer der dialogimmanenten Etablierung und Verstärkung des Wissensgefälles im Grunde keine rechte literarische Funktion in Bezug auf einen Leser haben können? Auf diese Fragen bleibt S. überzeugende Antworten letzten Endes schuldig.
Am umfangreichsten ist »Teil III: Das Denken Platons« (249–609). Hier rekonstruiert S. die einzelnen Bereiche der Platonischen Philosophie vornehmlich anhand der einschlägigen Dialogstellen: Platons Begriff der Philosophie als Religion (273 ff.), Ethik (295 ff.), Politik (366 ff.), Kosmologie (420 ff.) sowie die Ideenlehre (462 ff.). Die Prinzipientheorie wird aus der indirekten Überlieferung im Anschluss an Gaiser und Krämer resümiert (487 ff.). Den Abschluss bildet ein Kapitel »Die Mythen und die Religion, die Götter und der Gott« (555 ff.). Zwei Anhänge zum Siebten Brief und zu Platons Ironie (611–627) sowie Anmerkungen und Indizes vervollständigen den Band.
Das Kapitel zum Denken Platons folgt konsequent dem Kapitel zum Leben. Auch hier erscheint Platon »als Bürger […] konservativ« (267); für ihn ist »Gott […] das Maß aller Dinge« (268.603 ff.); nicht von der Schrift, sondern »vom Umgang mit Gleichgesinnten […] versprach er sich das Überspringen des Funkens der Erkenntnis« (270). Auf dieser Grundlage wird ein Bild seiner Philosophie entworfen, das diese in dem Sinne als »Gottesdienst« erscheinen lässt, dass der Philosoph auf dem Weg der Dialektik selbst zur höchsten Erkenntnis gelangen könne und damit quasi zu Gott werde. Die höchste Stufe sei freilich in den Dialogen »ausgespart«.
Diese Linie wird durch die verschiedenen Wissensbereiche durchgespielt. Dabei erscheint Platon gar nicht primär als Theoretiker des Seins oder des Wissens (oder der sonstigen Felder der Philosophie), sondern eher als Vermittler (quasi-)religiöser Erfahrung, aus der dann die entsprechenden Handlungsfelder folgen, welche ihrerseits wiederum auf »Gott als das Maß aller Dinge« (609) zulaufen. Wichtig sind S. insbesondere Hierarchien auf allen möglichen Ebenen: Auf den »Nus« als höchsten »Gott der Götter« (606) läuft eine ontologisch geordnete Götterhierarchie zu. In der Ethik gilt es, die Hierarchie der Seelenteile zu stärken, um in der »Angleichung an Gott« Eudaimonie zu erreichen (348.364 f.), »Körper, Seele, Staat, Kosmos sind für Platon verschiedene Stufen von organischer Einheit« mit »Gesundheit«, »Tugend«, »Gerechtigkeit« und »Ordnung« (387) als natürlichen Idealzuständen, usw. Diese Deutungen sind al-lesamt von der von Gaiser und Krämer vorgelegten Rekonstruktion der Prinzipientheorie der sogenannten »Ungeschriebenen Lehre« (487–554) inspiriert, in der die Antinomie zweier Prinzipien ( ἕν und ἀόριστος δυάς, Eins und Unbestimmte Zweiheit) sich zu einer Seinshierarchie sozusagen aufschaukelt, die am Ende wohl in einem Monismus im ἕν aufgehoben sein könnte. Leider folgt S. dabei mehr der von Krämer vorgegebenen, (neuplatonisch-)ontologisch informierten Seite als der von Gaiser rekonstruierten mathematischen Seite der Theorie. Denn, wie das wohl authentischste Zeugnis zur platonischen Prinzipientheorie (Aristoteles’ Bericht über Platons Vortrag »Über das Gute«) zeigt: Der Weg zur Erkenntnis führt über die Mathematik – bzw. über eine bestimmte, neu von Platon konzipierte Methode der Mathematik. Dies hat Platon zur Verblüffung seiner damaligen Zuhörer in seinem Vortrag wie auch an vielen Stellen seines Werkes (u. a. Menon, Theaitetos, Politeia VI und VII) dargelegt. Nur über sie führt der Weg der viele Jahre dauernden »wissenschaftlichen« Ausbildung zum Philosophen in der Akademie (im Höhlengleichnis von Politeia VII: der Weg aus der Höhle zum Licht). Nur sie leistet eine Form von abstrakt-rationalem Denken, das in wissenschaftlichem Sinne universal wahrheitsfähig ist – und diese »Wahrheitsfähigkeit« von Wissen, d. h. »sicheres« Wissen, ist und bleibt das zentrale systematische Thema der Platonischen Philosophie. Immer wieder spielt S. jedoch die Bedeutung der Mathematik eher herunter, um die Dialektik als innerakademische Methode und die finale Schau der Idee des Guten als religiöses Ziel zu pointieren. Dabei wäre sie der stärkste Trumpf im Plädoyer für den dialektisch-prinzipientheoretischen Kern platonischen Philosophierens. Dass obendrein die Dialoge selbst den Weg hinauf zum Licht durchaus modellhaft beschreiben (s. z. B. Politeia VI/VII), verschwindet dabei hinter S.s Bemühen, die Esoterik der mündlichen Lehre zu betonen.
Dabei ist die Grundthese, dass Platons Philosophie eine (mathematisch-dialektisch-)prinzipentheoretische Grundlage hat (die in der Akademie professionell entwickelt wurde und in der dortigen Arbeit die wichtige Rolle spielte), vollkommen überzeugend. Man darf Platon – darin muss man S. trotz seiner bisweilen allzu scharfen Polemiken gegen abweichende Forschungsmeinungen einfach zustimmen – sicher keine pluralistisch-diskursiven Wissenskonzepte unterstellen: Man kann den Satz des Pythagoras in der Tat nicht diskutieren – man muss ihn finden, beweisen und dann gilt er immer und überall. Allein ein solches Wissenschaftskonzept garantiert für Platon sicheres Wissen, und zwar in allen Bereichen bis hin zur umfassenden Erkenntnis von allem. S.s Buch dürfte also selbst Geister, die gegenüber einer »Ungeschriebenen Lehre« notorisch skeptisch sind, durchaus ins Schwanken bringen.
Ganz ausräumen wird das Buch diese Skepsis allerdings wohl nicht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wird die Generierung von Wissensfortschritt mit dem Hinweis auf die Dialektik zwar sachlich richtig (wenn auch etwas pauschal) begründet. Trotzdem betont S. immer wieder die personale Abhängigkeit des dialektischen Wissensfortschritts. Es mag richtig sein, dass es sich mit einem guten Lehrer besser lernt. Aber wie lernt der Lehrer? Von einem anderen Lehrer. Und der wiederum? Hier bleibt S.s Beschreibung des dialektischen Prozesses viel zu vage, um Skeptiker wirklich überzeugen zu können. Dialektik ist eine Methode, keine Sozialform eines Meisters mit seinen Schülern. Zweitens ist S.s Ansatz noch viel zu sehr der defensiven Position der Verteidigung und Aufwertung der (rekonstruierten) mündlichen Prinzipientheorie verhaftet. Über dieser Fokussierung auf die Mündlichkeit und dem Insistieren auf dem Defizitären der Schriftlichkeit bleibt die Frage, weshalb Platon sich dann eigentlich so extensiv mit dem Abfassen und der Publikation schriftlicher Werke beschäftigt hat, allzu unterbelichtet. »Die Freude des Künstlers am gelungenen Werk« (220) reicht da als Motivation einfach nicht aus. Immerhin benutzt S. selbst die Dialoge zur Rekonstruktion seines Denkens. Es scheint, als sei S. immer noch in den alten Tübinger Abwehrschlachten gefangen, in denen es darum ging, das seinerzeit neue Forschungsparadigma von Platons »Ungeschriebener Lehre« gegen die Angriffe des damaligen wissenschaftlichen Establishments zu behaupten. Daher rührt wohl auch der durchgehend polemische Ton des Buches. Ein Indiz dafür ist außerdem, dass die zitierte Forschungsliteratur sich weitgehend auf die damaligen Akteure beschränkt und neuere Forschung weitgehend ignoriert.
Inzwischen ist die neuere Forschung nämlich längst über diese alte Kontroverse hinweggegangen und setzt die mündliche Lehre zum Teil wie selbstverständlich voraus. So hat z. B. Danielle Allen in ihrem viel beachteten Buch »Why Plato Wrote« (2013) die Dialoge pointiert als Teile des öffentlichen Lebens Athens im 4. Jh. v. Chr. erwiesen, die wirkungsmächtig neue Rhetoriken des politischen Diskurses etabliert haben. Auch für sie ist der Dialog nicht Philosophie, sondern »nur« Mimesis, Sprache, aber eben philosophisch informierte Sprache, die als Mimesis von Gedanken, Gesprächssituationen und Problemanalysen durch das sprachliche Bilden von »Modellen« großes gesellschaftliches Wirkungs- und Handlungspotential besaß. Und Claas Lattmann kann in seiner Studie über »Mathematische Modellierung bei Platon« (2019) Platons neue Methode mathematischen Denkens (eine »Modellierung« der physikalischen Welt am universal gültigen Abstraktum anhand »qualitativ-relationaler« statt »quantitativ-messender« Parameter) in einer Weise aus den Dialogen selbst heraus rekonstruieren, die vollkommen in Einklang mit den entsprechenden dialektischen Konzepten der »Ungeschriebenen Lehre« sind.
Fast könnte man sagen, dass Platon mit der Forschung in der Akademie den Aufstieg der Seele aus der Höhle zum Licht der Erkenntnis, mit der Abfassung der Dialoge die Tätigkeit in der Höhle nach der Rückkehr betrieb. Eines geht nicht, wie es in Politeia VII zu lesen ist, ohne das andere. Ein Aufstieg ohne Abstieg würde gar keinen Sinn machen, also auch keine Prinzipientheorie ohne die Dialoge. Das ist der Sinn der Dialoge: das Wirken des Philosophen in der Gesellschaft hier und jetzt, komplementär zur akademischen Wissenschaft, die Expertenwissen erarbeitet. Mit solch einem Bild wäre sicher dann auch Schleiermacher versöhnt. Schließlich geht es letzten Endes nicht um ein abgetrenntes Jenseits in jener Welt der Ideen, sondern um das »richtige« Leben der Menschen, eben unser Leben, in dieser Welt.