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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

231–233

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Peterzelka, Dennis Hendrik

Titel/Untertitel:

Sinn und Wahrheit in Nietzsches Perspektivismus.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. 326 S. = Nietzsche in der Diskussion. Kart. EUR 44,80. ISBN 9783826071669.

Rezensent:

Christian Jung

In seinem Buch »Sinn und Wahrheit in Nietzsches Perspektivismus« unternimmt Dennis Hendrik Peterzelka den Versuch, Nietzsches Perspektivismus in einem vierstufigen Prozess »gründlich und umfassend zu durchleuchten« (9). In einem ersten Schritt beschäftigt er sich mit den Begriffen des Sinns und der Sinnlosigkeit, um Nietzsches Verständnis des Nihilismus zu beschreiben. Die nihilistische Erschütterung wird dabei mit der Erfahrung eines vollkommen »sinnentleerten Daseins« (32) gleichgesetzt und im Rückgriff auf Nietzsches Rede vom Tod Gottes expliziert.
In einem zweiten Schritt kommt Nietzsches Wahrheitsverständnis in den Blick, wobei das detaillierte Einordnen desselben im Dialog mit anderen Wahrheitskonzeptionen geschieht (Korrespondenztheorie, Pragmatismus, Kohärenztheorie). Als wichtige Gesprächspartner dienen an dieser Stelle Lanier R. Anderson, Maudemarie Clark, Arthur C. Danto, Werner Stegmaier und Claus Zittel, wobei P. eine spürbare Nähe zu Stegmaiers Nietzsche-Interpretation erkennen lässt.
In einem dritten Schritt nähert sich P. dem thematischen Zentrum seiner Abhandlung, dem Perspektivismus. Dabei unterscheidet er zwei Techniken bzw. Verfahren, die sich im Werk Nietzsches finden: das Konzeptualisieren und das Illusionieren. Während das Konzeptualisieren einen affirmativen Charakter hat und der wahrgenommenen Welt ein funktionierendes System, einen Sinn einschreibt, arbeitet das Illusionieren daran, diesen Sinn zu unterwandern und als artifiziell zu entlarven. In diesem Zusammenhang zeigt P., dass der unverwechselbare Charakter der Philosophie Nietzsches aus einem beständigen Wechselspiel beider Verfahrensweisen erwächst und somit in einem Sprung von Position zu Position, von Perspektive zu Perspektive besteht. M. E. hätte dieser fortwährende Perspektivwechsel noch stärker mit den Metaphern um­schrieben werden können, die Nietzsche selbst dafür anbietet. Ich denke z. B. an seine Rede von einer fröhlichen Wissenschaft, die ihre Positionen – kaum hervorgebracht – wieder belächelt, oder ich denke z. B. an die Idee eines tanzenden Philosophen, dem die Sinnfundamente, auf denen er zum Stehen kommt, lediglich dazu dienen, sich von Neuem abzustoßen. Zudem bleibt zu fragen, ob Nietzsche bei dem beständigen Wechsel von Konzeptualisieren und Illusionieren haltmacht oder nicht sogar den Versuch unternimmt, beide V erfahren ineinanderstürzen zu lassen. Gerade in seinem Spät-werk trägt er seine Konzepte in einer so überzeichnenden Weise vor, dass sie sich selbst ironisieren. Der Leser bleibt an dieser Stelle ratlos zurück, weil er nicht mehr entscheiden kann, ob er Nietzsche ernstnehmen soll oder auslachen muss.
In einem vierten und letzten Schritt konkretisiert P. seine Thesen, indem er auf Nietzsches berühmte Gedanken der ewigen Wiederkunft, des amor fati und des asketischen Ideals zu sprechen kommt und diese als Perspektiven vorstellt. Eine Konkretisierung, die nochmals deutlich macht, dass Nietzsches Perspektivismus zweierlei ermöglicht: das kurzzeitige Sich-Anschließen an einen Sinn, das vorübergehende Für-Wahrhalten eines Konzepts, aber auch die beständige Desillusionierung aller Konzeptionen.
Abschließend bleibt zu sagen, dass die vorgestellte Abhandlung, die in der Reihe Nietzsche in der Diskussion von Königshausen und Neumann erschienen ist und zugleich als philosophische Dissertation an der Universität Tübingen angenommen wurde, von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Schriften Nietzsches zeugt. Dies zeigt sich vor allem daran, dass P. nicht den Fehler be­geht, Nietzsches Philosophie auf wenige Theoreme wie den Übermenschen oder den Willen zur Macht zu reduzieren. Stattdessen liest er sein Werk – wie von Werner Stegmaier empfohlen – im Kontext. Auf diese Weise kann das vielstimmige Spiel der Positionen, das aus der Dynamik des Perspektivismus erwächst, spürbar gemacht und als hermeneutischer Schlüssel zu Nietzsches Schriften erkannt werden. Ein wenig unverständlich bleibt – aber dies hätte wahrscheinlich den Umfang des Promotionsvorhabens ge­sprengt –, warum sich P. für seine Perspektivismus-Thesen keine breite Rückendeckung aus der französischen Nietzsche-Rezeption geholt hat. Hier hätte es vielfältige Anknüpfungspunkte gegeben.