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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

229–231

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Atchadé, Boni Eriola Richard

Titel/Untertitel:

Philosophie der Macht. Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XIV, 346 S. = Tillich Research, 20. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110674590.

Rezensent:

Patrick Ebert

Mit der vorliegenden katholisch-theologischen Dissertationsschrift an der Theologischen Fakultät der Universität Trier will Boni Eriola Richard Atchadé eine zweifache Aufgabe bewältigen: Zum einen soll angesichts der Heterogenität und Unklarheit des Machtverständnisses im aktuellen Diskurs (10) Macht ontologisch in ihrem Wesen oder Was bestimmt werden. Zum anderen soll das Desiderat einer werkgeschichtlichen »Analyse des Machtbegriffs bei Paul Tillich« (12) behoben werden und dessen Position in den allgemeinen Machtdiskurs eingebracht werden. Dabei wird die Aufgabe von zwei entscheidenden Vorannahmen bestimmt: 1. die Untragbarkeit einer Polysemie des Machtphänomens (9) und 2. die Annahme einer Einheit, eines Wesens, eines Was der Macht hinter ihren empirischen Formen (8).
A. geht dieser doppelten Aufgabe in zwei großen Teilen nach: So handelt ein erster Teil von der Philosophie der Macht im 20. Jh., der sich A. über die Theorien Arendts, Foucaults, Plessners und Jaspersʼ nähert. Sie sollen der Einordnung und Profilierung der Position Tillichs dienen (13), fungieren als Kontrastfolie zu dieser und werden an den von Tillich übernommenen Vorannahmen gemessen, d. h., ob sie in der Lage sind, eine Antwort auf das »Wesen« der Macht zu geben. Ob die Position Tillichs dabei durch diese Ansätze kritisiert, korrigiert oder erweitert werden könnte, scheint dabei ebenso wenig in den Blick zu kommen wie eine Reflexion auf die Vorannahmen selbst, d. h. die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer on­tologischen Wesensbestimmung überhaupt.
A. stellt zunächst Arendts handlungstheoretischen und geistpolitischen Begriff der Macht dar (19–41), um dann ihre Verhältnisbestimmung von Macht und Gewalt als strikte Trennung zu thematisieren (41–48), was sich besonders in der Auseinandersetzung mit Tillich als relevant erweisen wird. Da Arendt aber lediglich die Frage nach dem Wie der Macht stelle und nicht die Frage nach dem Was oder Wesen der Macht, wird ihr Ansatz als »wenig hilfreich bzw. unklar« (48) abgetan.
Ähnlich steht es um Foucault. Zwar konstatiert A., dass »Foucaults Machtvorstellung eine ontologische Auffassung nicht fremd« (53) sei, doch stelle er das Wie der Macht, die Machtbeziehungen ins Zentrum seiner Überlegungen, welche A. – recht knapp– über die Punkte der produktiven Funktion der Macht, der Verbindung von Macht und Subjekt und dem Widerstand als Ort der Sichtbarkeit von Machtbeziehungen darstellt (53–64). Dabei nutze Foucault die Begriffe Produktivität, Kampf und Widerstand, die »den Wesenscharakter der Macht herausstellen« (64) würden, füge diese jedoch keinem ontologischen Explikationsrahmen ein und könne so kein weiteres Licht ins Wesen der Macht bringen (64). Dabei erstaunt hinsichtlich Foucaults einschlägigen Beiträgen zur Machtthematik aber, dass dieser auf gerade mal fünfzehn Seiten dargestellt und abgehandelt wird. Eine Befragung der eigenen Voraussetzungen hätte sicherlich die Notwendigkeit und den Ort geschaffen, Foucaults Beitrag fruchtbarer und angemessener zu Wort kommen zu lassen. So hätte man weiterführend aufzeigen können, dass Macht nicht primär handlungslogisch konzipiert wird, sondern im Sinne von Machtfeldern, -wirkungen und -strategien, in denen sich Individuen vorfinden und zu Subjekten werden. Zugleich hätte so der Raum entstehen können, Foucault – und wohl auch Tillich – nach dem zu befragen, was sich Macht oder Machtbeziehungen als radikal Fremdes entzieht.
Die Darstellung Plessners ist deutlich ausführlicher und be­spricht die Motive der exzentrischen Positionalität und Unergründlichkeit des Menschseins als Schlüssel zu dessen anthropologischem Machtverständnis (66–74), das über das Motiv des Könnens den Menschen als Macht bestimmt (74–81). Eine Darstellung der politischen Dimension des Denkens Plessners in der Freund-Feind-Relation und so der Macht im reziprok-symmetrischen Vergesellschaftungsprozess schließt diesen Teil ab (81–87). Nach A. könne aber auch Plessner mangels einer ontologischen Thematisierung das Wesen der Macht nicht entschlüsseln (143).
Mit Abstand am ausführlichsten widmet sich A. der Position Jaspers (88–138). Hier verfolgt A. ein Denken der Macht als Verwirklichung 1. der menschlichen Existenz im Durchstehen von Grenzsituationen (99–114) und 2. dieses Selbstseins in existenzieller Kommunikation (114–121), was auf den Übergang zur politischen Ebene verweise (122). Auf dieser werde 1. die unvermeidliche Gewalt (126) und 2. die Bestimmung der Existenz als Freiheit des Selbstwählens und -seinkönnens (128.131) und der politischen Freiheit als Umsetzung dieser existenziellen Freiheit im Lebensvollzug (129) bedeutsam. Die anschließende Darstellung der Auseinandersetzung Jaspers mit Nietzsches ›Willen zur Macht‹ versucht zu zeigen, wie sich das Jasperssche transzendente Sein selbst der Immanenz der Metaphysik der Macht entziehe (132–138) – was einen deutlichen Unterschied zu Tillich markiert, der das Sein-Selbst als Macht bestimmt, so dass aber für A. im Umkehrschluss auch Jaspers’ Machtdenken noch nicht die geforderte ontologische Tiefe erreichen könne. Erneut verliert A. in diesem Urteil aber das, was sich dem Raum der Macht als Transzendenz entziehen könnte, aus dem Blick.
Im Anschluss an die Zwischenbilanz (139–143) geht A. im zweiten Teil dem Machtverständnis Tillichs nach. In einem ersten Schritt wird Tillichs früher sinntheoretischer Machtbegriff werkgeschichtlich und systematisch dargestellt (151–205), wobei sich Macht in der Kopplung an Geist und Freiheit als sinnerfüllte Mächtigkeit darstelle, welche Mächtigkeit als Sinnerfüllung auch auf Ebene der die Spannung ausgleichenden Gesellschaft auftrete.
Um zum zweiten Schritt überzugehen, fragt A. zunächst nach den Übergängen und dem Verhältnis von Sinn zu Sein (205–210), um dann die Erschließung der Grundbedeutung von Macht durch die Ontologie zu betrachten, weshalb zunächst Tillichs Ontologie über die verschiedenen Spannungsdimensionen erläutert wird (211–256). An dieser Stelle hätte aber deutlicher werden können, dass diese Spannungen letztlich doch immer schon aufgehoben sind in Tillichs Begriff des Sein-Selbst, in Gott als dem Lebendigen und Schaffenden. Von radikalen Spannungen kann hier keine Rede sein.
Ausgehend von dieser Ontologie wird Macht als Seinsmächtigkeit der Dinge und Sich-Behaupten gegen den Widerstand des Nicht-Seins näher gefasst (256–272), wobei der Schlüssel zum Verständnis des Machtbegriffs im Widerstand des Nicht-Seins und seiner Überwindung durch die Macht des Seins liege, die wiederum in der ursprünglichen, das Nicht-Sein umfassenden Größe des Sein-Selbst begründet sei (272–275). Die Struktur der Seinsmächtigkeit wird dabei über den Begriff der Begegnung vorgenommen, was zur Bestimmung der Macht als Seinsmächtigkeit von Personen in der Ich-Du-Beziehung und so zur Ethik der Macht führt (275–280).
Diese Ethik (280–301), die – anders als z. B. bei Levinas – der Ontologie nachklappt, kommt dabei auf die innere Einheit von Macht, Liebe und Gerechtigkeit zu sprechen und macht dies deutlich an dem der Macht inhärenten Begriff der Gewalt, wobei die Ambivalenz der Verbindung von Macht und Gewalt hier vor dem Hintergrund der Liebe und Gerechtigkeit als gerechte Gewalt versus un­gerechte Gewalt dualisiert wird – womit aber auch der Ambivalenz umgehend der Stachel gezogen wird.
Das Fazit des Buches (302–309) wiederholt das Erarbeitete: Erst Tillichs Ontologie der Macht erreiche ein realistischeres Verständnis von Macht, befreit von allen Konfusionen, Ideologien und Dämonisierungen (307).
Abschließend bietet A. eine spannende, aber knappe Anwendung des Machtverständnisses Tillichs auf die politische Situation Afrikas (309–315). Hier hätte man gerne noch mehr gelesen und einen tieferen Einblick bekommen – auch was die konkrete An­wendbarkeit der Gedanken Tillichs angeht.
Wie steht es nun um die zweifache Aufgabe? A. hat zweifellos in seiner werkgeschichtlichen Analyse des Machtbegriffs bei Tillich ein Desiderat behoben und diesen zugleich in den Machtdiskurs eingebracht.
Bezüglich des zweiten Aspekts aber wird man stutzig: Kann Tillichs Beitrag tatsächlich für mehr Klarheit im heterogenen Diskurs um Macht und ihre faktische Polysemie sorgen? Gerade wenn man Tillichs metaphysisch-ontologische Denkart und vor allem deren Anspruch nicht teilt, wird doch fraglich, ob mit Tillich nicht »nur« eine weitere – durchaus kritisierbare – Position im Machtdiskurs auftritt, statt dass sie diesen irgendwie zu homogenisieren, zu fundieren, geschweige denn klärend zu erhellen vermag. Eine homo-genisierende Klärung, Fundierung oder Verwesentlichung »der« Macht wird wohl auch auf diesem Wege so einfach nicht gelingen, wenn man die verschiedenen Stimmen des Diskurses und die verschiedenen Phänomene von Macht ernst nimmt – eine weitere Stimme vermag A. aber allemal in diesen Diskurs einzubringen.