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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

227–229

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reinert, Jonathan

Titel/Untertitel:

Passionspredigt im 16. Jahrhundert. Das Leiden und Sterben Jesu Christi in den Postillen Martin Luthers, der Wittenberger Tradition und altgläubiger Prediger.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XVI, 420 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 119. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161596605.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

In seinem bahnbrechenden Werk »The Primacy of the Postils« (Leiden u. a. 2010) bezeichnet John M. Frymire die Gattung »Postille« als »the most important genre for the dissemination of ideas in early modern Germany« (ebd., 1). Dass dies nicht nur für die lutherische, sondern auch für die römisch-katholische Konfessionskultur ge­zeigt wird, ist das Neue an seinen Studien. Die Anregung, dieser Einsicht folgend komparative Studien zu betreiben, wird von Jonathan Reinert in seiner Dissertationsschrift aufgegriffen. Sie setzt sich zum Ziel, den »gar nicht so geradlinigen Weg von der reformatorischen Bewegung zu einander gegenüberstehenden Konfessionskulturen« (12) am Beispiel der Predigt über das Leiden und Sterben Jesu aufzuzeigen.
Untersucht werden allerdings nicht Predigten schlechthin, sondern volkssprachliche Postillen. Sie stammen aus der Feder Luthers und 14 weiterer Autoren, die entweder der »Wittenberger Tradition« zugehörten oder zum altgläubigen Lager zählten (Übersicht: 18). Damit soll »eine gewisse Breite an lutherischen und altgläubigen Auslegungen in den Jahrzehnten seit der Reformation« (18) geboten werden.
Eine Sonderstellung nimmt Luther ein. Seine Passionspredigten– insbesondere der Passionssermon von 1519, der 1525 in die Fastenpostille aufgenommen wurde – werden am Anfang der Arbeit als gattungsbildendes Modell analysiert (Kapitel II). Darin spiegelt sich der methodische Zugang der Arbeit. Es geht R. nicht um die Passionspredigt im 16. Jh. in toto, sondern um die Frage, inwiefern Luthers Passionspredigten »Prägekraft« (16) hatten im Blick auf spätere Passionsprediger, seien sie aus dem eigenen oder aus dem gegnerischen Lager. Das Lutherkapitel nimmt dementsprechend ungefähr ein Drittel des analytischen Teils der Arbeit ein. In den folgenden Kapiteln werden chronologisch geordnet abwechselnd altgläubige und lutherische Autoren, jeweils in Gruppen von drei oder vier Theologen, präsentiert und ausgewertet. Dabei bewegt sich die Untersuchung jahrzehnteweise vorwärts in Richtung 1580, dem Jahr, das mit der Fertigstellung des Konkordienbuches eine Zäsur in der Ausbildung der Konfessionen und somit den Endpunkt der Untersuchung bildet.
Die Stärke der Vorgehensweise ist, dass es gelingt, die Wirkung von Luthers Passionspredigt in Rezeption und Konfrontation über einen relativ langen Zeitraum von rund 60 Jahren diachron zu verfolgen. Der Nachteil ist, dass die synchrone Betrachtung nur geringen Raum einnehmen kann, was insbesondere bei der Behandlung der Wittenberger Repräsentanten aus der Zeit nach 1550 ins Auge springt, die vor einem deutlich veränderten, jedoch wenig ausgeleuchteten Hintergrund schreiben (vgl. nur den Verweis auf Trient, 308 mit Anm. 343).
Dass R. ausgerechnet Passionspredigten als Untersuchungsgegenstand wählt, hat Gründe. Die Passionsfrömmigkeit kennzeichnet nicht nur das Spätmittelalter, sondern auch das Luthertum des 17. Jh.s. Dazwischen steht Luther, der in irgendeiner Weise für die Transformation des einen in das andere verantwortlich ist. Als Schlüssel für die Neuausrichtung wird Luthers Passionssermon von 1519 angesehen, an dem zwei Fragestellung herauskristallisiert werden, die auf alle Predigten Anwendung finden: die Verwendung der Figur des Mitleidens mit Christus (compassio) und die Auslegung von Christi Leiden mit Hilfe der Kategorien sacramentum und exemplum. Erstere hat Luther 1519 kritisiert, letztere prominent mit eindeutiger Betonung des Gabecharakters eingeführt. Dahinter steht die noch grundlegendere Unterscheidung von Ge­setz und Evangelium, deren Bedeutung R. zu Recht herausarbeitet (63–66), aber erstaunlicherweise wenig in Ansatz bringt. Als drittes Kennzeichen tritt in den Predigten der späteren Hauspostille die explizite Kritik am Papsttum (vgl. 116 f.) hinzu. Im An­schluss an Berndt Hamm sieht R. in der Zentrierung der Passionstheologie und -frömmigkeit auf die Exklusivität des Handelns Christi in seinem Leiden und Sterben, dem das Empfangen des Heils durch den Glauben gegenübersteht (solus Christus und sola fide), die normativen und traditionsbildenden Faktoren lutherischer Passionstheologie (155 f.).
Damit ist der methodische Boden bereitet: Es werden Passions-predigten aus sorgfältig ausgewählten Postillen lutherischer und altgläubiger Prediger auf ihre Konvergenz mit den theologischen Grundentscheidungen Luthers hin untersucht und hinsichtlich ihrer Kontinuität und Diskontinuität im Blick auf Luther – so die lutherischen – und die spätmittelalterliche Tradition – so die altgläubigen – sowie auf ihre Kohärenz und Inkohärenz im Blick auf das jeweils eigene Lager befragt.
Welche Erkenntnisse bringt die Untersuchung? Zunächst: Die Frage nach der Prägekraft von Luthers Passionspredigten wird positiv beantwortet. Es gibt einen eigenen Typus lutherischer Passionspredigt, der wiedererkennbar ist. Den Kern bildet das Thema, »das nach Luther Gegenstand aller Theologie ist – der sündigende Mensch und der rechtfertigende Gott« (336). Dass dabei die »Rechtfertigungsterminologie selbst in der Predigt vom Kreuz eine untergeordnete Rolle spielte« (ebd.), ist gar nicht so überraschend, sondern ein Sachverhalt, der ebenso in den Katechismen begegnet. Die Studie bestätigt die Sicht, dass Luthers theologische Einsichten überkommene theologische Wissensbestände in der Weise neu zentrierten, dass eine Scheidung der Konfessionen unaufhaltsam war. Für die altgläubige Seite zeigt sich, was in gewissem Sinne auch für die vorlutherische Situation typisch ist, dass es eine dementsprechende Zentrierung eben nicht gab. R. spricht daher vom »Typus ohne Antitypus« (332). Natürlich gilt, dass Luther auch die Predigt derjenigen beeinflusst hat, die ihn bekämpften. Aber inwiefern das geschah, durch Aufnahme, Umdeutung, Abgrenzung, durch Neuausrichtung oder Rückbindung an die Tradition, das konnte sehr unterschiedlich sein. Insofern könnte man fragen, ob nicht gerade das den altgläubigen, dem spätmittelalterlichen römischen Erbe verpflichteten Typus ausmacht: dass er zwar viele Elemente aufweist, die auch von lutherischen Theologen aufgenommen und variiert werden konnten, dem Ensemble aber die charakteristische Struktur fehlte, die den reformatorischen Typus auszeichnet. Dieses Bild ist allerdings dadurch limitiert, dass die Studie nur solche altgläubige Postillatoren einbezieht, die den Stand der Debatte vor Trient abbilden.
Des Weiteren beobachtet R. am Beispiel der Figur des Mitleidens mit Christus ab Mitte des Jahrhunderts eine Entschärfung der konfessionellen Gegensätze. Allerdings könnte sich hier nun die mangelnde synchrone Betrachtung bemerkbar machen, denn dass eine Generation nach Luthers Passionssermon Aussagen über die compassio im lutherischen Kontext möglich wurden, die Luther abgewiesen hatte, muss nicht unbedingt viel bedeuten. In einer neuen kirchlichen Situation und innerhalb eines veränderten theologischen Systems können Aussagen ähnlich klingen, die dennoch nicht dasselbe bedeuten. In jedem Fall ist R. zuzustimmen, dass für eine differenzierte Erfassung der konfessionellen Eigenarten die »Wechselwirkungen« zwischen den Konfessionen nicht übersehen werden dürfen (340).
Die Studie stellt einen instruktiven und innovativen Beitrag zur Erforschung der Frage dar, welchen Beitrag Postillen zur Ausbildung der lutherischen und römisch-katholischen Konfessionskultur leisteten. Man kann sich nur wünschen, dass die erwiesene Fruchtbarkeit des Ansatzes zur weiteren Beschäftigung mit dieser Gattung anregt.