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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

578–580

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weyel, Birgit

Titel/Untertitel:

Ostern als Thema der Göttinger Predigtmeditationen. Eine homiletische Analyse zu Text und Wirklichkeit in der Predigtarbeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 292 S. gr.8 = Arbeiten zur Pastoraltheologie, 35. Kart. DM 78,-. ISBN 3-525-62358-5

Rezensent:

Jan Hermelink

Die Methodik pastoraler Predigtarbeit ist wahrscheinlich in den letzten 50 Jahren weniger durch homiletische Theoriearbeit geprägt worden als durch die regelmäßig publizierten "Predigtmeditationen", die zumeist beim kirchlich vorgegebenen Predigttext einsetzen und erst dann den homiletischen Situationsbezug bedenken. Birgit Weyels Projekt, das Verhältnis von "Text und Wirklichkeit in der Predigtarbeit" exemplarisch anhand der "Göttinger Predigtmeditationen" zu untersuchen, erscheint insofern ausgesprochen einleuchtend. Ihre Berliner Dissertation von 1997, die hier überarbeitet und durch ausführliche Register erschlossen vorliegt, geht das komplexe Thema in drei Teilschritten an.

Zunächst wird gleichsam die implizite Homiletik der GPM herausgearbeitet, und zwar anhand einzelner Meditationen zu den Osterfesttagen (17-92). Insgesamt werden zu diesem theologisch wie hermeneutisch fundamentalen Thema 40 Predigthilfen analysiert, die von 1983 bis 1996 in den GPM und den EPM erschienen sind.

Hinsichtlich der Inhalte der Osterpredigt, die in den Beiträgen vorgeschlagen werden, konstatiert W. die häufige Konzentration "auf einen theologisch zentralen Begriff, der in der Regel abstrakt formuliert ist" (21). Der Bezug der Auslegungen auf die Predigttexte erscheint höchst selektiv; ihr exegetisch zu ermittelnder Sinngehalt wird regelmäßig verkürzt, nivelliert oder auf seine Wirkungsabsicht reduziert. Den Bezug auf die Wirklichkeit stellen die Meditationen vor allem durch rasche "Identifikation" mit der biblischen Situation her (56). In einer Art "Schwarzweißmalerei" (63) erscheint die Lebenswelt als düster und todesverfallen; positiv beschrieben wird nur die ganz andere, österliche Wirklichkeit, die die Predigt ansagen und deren ethische Konsequenzen sie einfordern soll. Insgesamt ist das - meist mehrteilige - Vorgehen der Meditationen geprägt durch die "drängende" Frage nach der Gegenwartsbedeutung der biblischen Texte (34, vgl. 53.59.79 u. ö.). Unter dem Druck der homiletischen Applikation gehen innerbiblische und hermeneutische Differenzierungen verloren, auch die Aktualisierungen sind methodisch unreflektiert und bleiben inhaltlich vage.

Dieser erste Teil des Buches, der "exemplarische Predigtarbeit" betrachten will (11), ist gegenüber der Dissertation um mehr als die Hälfte gekürzt. Die äußerst kompakte Darstellung wird durch gelegentliche Zitate und kurze Paraphrasen illustriert, nicht durch die Vorstellung einzelner Meditationen als ganzer. So erhält die sehr kritische Perspektive, die W. durchgehend einnimmt, ein gewisses Übergewicht: Man fragt sich nach der Lektüre fast erschrocken, ob es denn überhaupt Ostermeditationen geben kann, die den hohen (und hier wenig explizierten) Ansprüchen der Vfn. genügen.

Der zweite, quantitativ wie inhaltlich gewichtigste Teil der Studie fragt nach den expliziten Vorgaben der GPM in der "Homiletik der Schriftleiter" (95-194). Höchst sorgfältig werden die Vorworte zu einzelnen Heften, die Autorenschreiben sowie weitere Publikationen untersucht, mit denen H. J. Iwand (bis 1960), M. Fischer (bis 1970), W. Fürst (bis 1983), K.-P. Jörns (bis 1990) und F. Merkel (bis 1996) das Profil der GPM geprägt haben.

Auf diese Weise wird deutlich, wie stabil die Grundzüge des Göttinger Meditationskonzepts über ein halbes Jahrhundert geblieben sind (190 ff.): Die GPM (und ebenso die EPM, ungeachtet der situativen Differenz: 176 ff.) wollen eine "homiletische Auslegung" des biblischen Textes bieten, die zwischen historisch-kritischen und meditativ-assoziativen Verfahren ausdrücklich nicht trennt, weil sie den Prediger als "ersten Hörer" des Evangeliums versteht. Wirklichkeitsbezüge werden zunehmend eingefordert, dürfen dem einzelnen Prediger aber nicht vorgreifen und müssen daher prinzipiell unbestimmt bleiben.

In historischer Perspektive zeichnet die Vfn. nach, wie dieses homiletische Praxisprogramm von den Schriftleitern gegen alle Anfragen konsequent und lange Zeit erfolgreich verfochten wurde (vgl. etwa 127 ff.134 ff.172 ff.). Besonders M. Fischer er-scheint, auch durch briefliche Äußerungen, als eine bis in die 80er Jahre prägende Gestalt (186). In systematischer Hinsicht arbeitet W. den eigentümlich hermetischen Begründungszusammenhang heraus, auf dem jenes Konzept beruht. Diese dezidiert dogmatische Argumentation - sie wird vor allem an den Texten Iwands, an Fischers "Evangelischer Predigtlehre" von 1949/52 sowie an Jörns’ Skizzen zum "Glaubensgespräch" entfaltet - geht von der Autonomie des im kanonischen Text enthaltenen, sich selbst zur Aktualität bringenden "Wortes Gottes" aus, auf das der Prediger nur gehorsam-passiv zu "hören" hat. In eben diese Glaubenshaltung gegenüber dem Text soll die Meditation einweisen.

Der dritte, resümierende Teil über "Text und Wirklichkeit in der Predigtarbeit" (197-252) legt zunächst nochmals dar, dass die inkriminierten Defizite der exemplarischen Meditationsarbeit sich geradezu notwendig aus der vorgegebenen dogmatischen Begründungsfigur ergeben. In mehreren Durchgängen arbeitet W. vor allem heraus, wie das Postulat einer ausschließlich rezeptiven Predigtarbeit dazu verführt, die methodische Verantwortung des Predigers zu verdecken. An die - z. T. wiederholende - Kritik des GPM-Verfahrens schließen sich jeweils konstruktive Hinweise an für eine "loyale", inhaltsorientierte und exegetisch reflektierte Textarbeit sowie für eine "durchsichtig" strukturierte "Wirklichkeitsexegese", die auf die Differenzierung der Hörerschaft ebenso achtet wie auf die prinzipielle Einheit moderner Wirklichkeitserfahrung. Das eigene Profil dieser Anregungen in der aktuellen homiletischen Debatte tritt freilich wenig hervor.

Der spezifische Ansatz der Vfn. wird erst im letzten Kapitel ausdrücklich (241-252), und zwar wiederum anhand des Osterthemas, das die Studie mit Beginn des zweiten Teils leider aus dem Blick verloren hatte. Indem die biblischen Texte, der Vfn. zufolge, die "Exklusivität der Ostererscheinungen" betonen, bringen sie die eschatologische Totenerweckung als ein "fremdes", die "wahrscheinliche" Lebenserfahrung und alle menschlichen Handlungsmöglichkeiten übersteigendes "Versprechen" zum Ausdruck (242-246 im Anschluß an J. v. Soosten und H. Luther). Von daher wird eine homiletische Methodik angedeutet, die die spezifischen Gehalte der Texte respektiert, ihre Bildlichkeit für die Sprache der Hoffnung auf ein "loses Leben" nutzt (246 ff.) und Lebenserfahrungen vielfältig nuanciert "offenlegen" kann (251), weil diese Erfahrungen nicht den Grund des Osterglaubens, sondern seinen je besonderen Ort darstellen. Außerordentlich klar und überzeugend wird hier am Paradigma der Osterpredigt skizziert, wie sich aus der exegetisch versierten Inhaltsbestimmung der Predigt praktische Konsequenzen für das Verfahren ihrer Erarbeitung ergeben.

Die wiederholte Kritik der Vfn., in den GPM würden die "faktischen Gegebenheiten von Predigtarbeit" dogmatisch ignoriert (204, vgl. 123 ff.155 ff.192 f. u. ö.), wird man freilich auch ihrem eigenen Entwurf noch nicht ersparen können. Indem sie ihre hoch reflektierten fundamentalhomiletischen Überlegungen erst am Schluß der Arbeit präsentiert, bleibt der inhaltliche Maßstab ihrer Kritik allzu lange unklar, und ebenso das sachliche Prinzip ihrer konstruktiven Einzelvorschläge. Überdies nimmt auch W. die homiletische Wirklichkeit, am Beispiel der GPM, fast nur als defizitäre in den Blick; auch sie gerät so in die Gefahr, die realiter doch etwas hoffnungsvolleren "faktischen Gegebenheiten der Predigtarbeit" durch eine österliche Homiletik der Exklusivität zu verdecken. Eine (inkarnatorische?) Konkretisierung ihres Modells in faktisch gelungenen homiletischen Vollzügen würde die wertvollen Anregungen, die diese Studie für die publizistische wie für die pastorale Predigtarbeit enthält, noch deutlicher hervortreten lassen.