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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

225–227

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lipi´nski, Cezary, u. Wolfgang Brylla [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Reformation 1517. Zwischen Gewinn und Verlust.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 332 S. m. 10 Abb. = Refo500. Academic Studies, 66. Geb. EUR 100,00. ISBN 9783525564813.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Der Sammelband dokumentiert eine Tagung der germanistischen Institute der Universitäten Grünberg (Zielona Góra) und Posen (Poznań), die im Oktober 2017 stattfand. Zwanzig deutschsprachige Aufsätze von Verfasserinnen und Verfassern unterschiedlicher Nationalität und Fakultätszugehörigkeit versuchen, die »Frage nach dem Mehrwert und bleibenden Erbe der protestantischen Reformation aus der Sicht der Gegenwart« (13) zu beantworten. Der Titel des Bandes greift Paul Tillichs These auf, dass die Reformation »not only a religious gain but also a religious loss« war (ebd.), allerdings ohne diesen Satz aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus zu verstehen und sich seiner systematisch-theologischen Abzweckung bewusst zu sein.
Kirchengeschichtliche und theologische Zugänge zum Thema finden sich nicht. Die meisten Beiträge beschäftigen sich in sprach- und kulturwissenschaftlicher Hinsicht mit der Reformation und ihren Wirkungen. Eingeleitet wird der Band allerdings durch eine Sektion mit historischen Beiträgen: Heinz Schilling (»Der Mönch und das Rhinozeros«) und Wolfgang Reinhardt (»Reformation global?«) variieren ihre bekannten Thesen zur Einbettung der Reformation in größere globalgeschichtliche Zusammenhänge; weitere Beiträge stellen am Beispiel der Stiftungen und Herrschaften der Fugger die römisch-katholische Konfessionalisierung vor Augen (Johanna Schmidt), skizzieren, wie lutherische Autoren aus Thorn im 17. und 18. Jh. die Reformationserinnerung für konfessionelle Identitätsbildung nutzten (Anna Mikołajewska), und behandeln die »Reaktionen auf die Vertreibung der Sozinianer aus dem Königreich Polen-Litauen (1658–1660) im deutschen Sprachraum«, vor allem in Brandenburg-Preußen (Wacław Pagórski).
Die Sektion mit den »[l]iterarischen Annäherungen« versammelt einen bunten Strauß: Behandelt werden Heinrich Kielmanns Reformationskomödie Tetzelocramia von 1617 (Cora Dietl), das enge Verhältnis von Reformation und mittelalterlicher Tradition (»Verwandlung und Übergang statt Umbruch und Revolution«) am Beispiel der Fabeldichtung (Joanna Godlewicz-Adamiec), die Schwierigkeiten der essayistischen Beschäftigung mit der Reformation und insbesondere mit Luther (Slawomir Leśniak), August von Kotzebues Theaterstück über die Hussiten (Stefan Lindinger), das Dürerbild in deutschen Romanen des späten 19. und frühen 20. Jh.s (Tomasz Szybisty) und Ricarda Huchs Lutherdeutung in den Jahren 1916 und 1936 (Gabriela Jelitto-Piechulik).
Noch bunter – auch dank der eingestreuten Abbildungen – ist die folgende Sektion, die »[ä]sthetisch-kulturelle Verortungen« versammelt: Hier finden sich Beiträge zur popkulturellen Verwertung Luthers in der jüngeren Vergangenheit (Wolfgang Brylla), zur Vergegenwärtigung Luthers »in der deutschen Erinnerungskultur« von der frühen Neuzeit bis heute (Jerzy Kałąży), zur Bedeutung der Reformation für den »Paradigmenwechsel der Kunst« (Cezary Lipi´nski), zur Konfessionalisierung der kirchlichen Kunst im zur Reformation übergegangenen und später rekatholisierten Herzogtum Pfalz-Neuburg (Franz Josef Merkl) und zu Valentin Weigels Toleranzkonzeption (Albrecht Classen).
Zwei kurze Sektionen schließen den Band ab: Unter der Überschrift »Geschlechterdiskursive Verortungen« geht es um Konzeption und Umsetzung der »Gelehrtenehe« bei Luther und Melanchthon (Mirosława Czarnecka) und um »Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität« (Arletta Szmorhun). Und unter der Überschrift »No­ten zu einer Reformation der Sprache« werden »Luthers deutsches Sprachschaffen und Sprachwandel in der binnendeutschen Standardvarietät« (Michail L. Kotin) und das »sprachliche Erbe der Lu­therbibel bei Johann Arndt« (Anita Fajt) behandelt.
Die vielfach kurz gehaltenen Beiträge sind von unterschiedlicher Qualität und bieten wenig Neues oder Weiterführendes. Da der Band kein Namen- und Sachverzeichnis enthält, lässt sich das in ihm dargebotene Material nur erfassen und rezipieren, wenn man Beitrag für Beitrag liest. Das im Untertitel und Vorwort angekündigte Leitthema »Gewinn und Verlust« wird nur in wenigen Beiträgen aufgegriffen und auch dann zumeist nur beiläufig be­handelt. Dabei steht die modische Relativierung des Umbruch-Charakters der Reformation im Vordergrund, während die aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft problematische Gewinn- Verlust-Rechnung kaum eine Rolle spielt. Reflexionen über die Konzeptionen und Begrifflichkeit finden sich nicht, und die be­handelten Sachverhalte werden nicht auf ihre Aussagekraft für die Frage nach Kontinuitäten und Wandel im Zuge der Reformation geprüft. Der plakative Obertitel des Bandes, der die Reformation mit dem Jahr 1517 in eins setzt und suggeriert, es handele sich um einen Sammelband über die frühe Reformation und den mit ihr zusammenhängenden Umbruch, verspricht etwas, was die Beiträge nicht einlösen.
Der Band weist nicht nur keine Indizes auf, er enthält noch nicht einmal ein Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger. Irritierend sind die zahlreichen Tipp- und Trennfehler, die nicht immer nachvollziehbaren und manchmal auch fehlerhaften Quellen- und Literaturnachweise und die Nichtbeachtung von Zitierstandards. Manche Ausführungen sind kirchen- und theologiegeschichtlich wenig stichhaltig oder sogar fehlerhaft. Der Band zeigt, dass die deutsche kirchengeschichtliche Forschung jenseits der Theologie und im Ausland nicht immer wahrgenommen und oftmals oberflächlich rezipiert wird.