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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

214–216

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilk, Florian [Ed.]

Titel/Untertitel:

Paul and Moses. The Exodus and Sinai Traditions in the Letters of Paul.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VIII, 270 S. = Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs, 11. Geb. EUR 59,00. ISBN 9783161594908.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Die von Florian Wilk (Göttingen) herausgegebene Sammlung von neun Beiträgen renommierter nationaler wie internationaler Exegetinnen und Exegeten geht zurück auf ein Symposion in der Nähe von Göttingen im Frühsommer 2019. Die in der Mehrzahl englischsprachigen Aufsätze widmen sich der Rolle des Mose in den Briefen des Paulus. Sie fragen nach dem paulinischen Verständnis der Sinai-Überlieferung und der Traditionen der Wüstenwanderung. Sechs Beträge beziehen sich explizit auf die beiden Korintherbriefe. Thematisch liegt ein Akzent auf der Frage nach der Vorbildung der korinthischen Gemeindeglieder und nach Bildungsprozessen, d. h. danach, wie man sich die Aneignung von Kenntnissen vorzustellen hat.
Die Beiträge lassen sich in drei Dreiergruppen bündeln. In den ersten drei Artikeln geht es um die Voraussetzungen und um die Exodus- bzw. Sinai-Bezüge außerhalb der Korintherkorrespondenz. Die nächste Gruppe stellt 1Kor 10 ins Zentrum und die letzten drei Arbeiten befassen sich schwerpunktmäßig mit 2Kor 3.
U. Mittmann (7–52) bietet den ausführlichsten Beitrag und macht in ihrer materialreichen Studie aufmerksam auf charakteristische Unterschiede und auf Spezifika der Überlieferung ägyptischen Ursprungs auf der einen und der palästinischen Überlieferung auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund weist sie darauf hin, dass die Deutung des Paulus Ergebnis seiner eigenen Exegese ist, resultierend aus seiner hermeneutischen Voraussetzung der Erfüllung der Schrift durch Christus. Wer sich weiter mit der Fragestellung auseinandersetzen möchte, wird M. für ihre sys­tematisierte Schriftenübersicht (10 f.) dankbar sein.
Die Behandlung der Exodus-Tradition in den Paulusbriefen außerhalb der Korintherkorrespondenz steht im Mittelpunkt der Untersuchung von A. A. Das (53–66). Dezidiert grenzt sich D. von den sechs Thesen ab, mit denen S. M. Scott die Argumentation in Gal 4,1–7 auf die Exodus-Tradition bezieht. Er warnt vor dem Schluss, eine hohe Quantität schwacher Argumente schlage ir­gendwann in Qualität um. Eine deutlichere Nähe erkennt D. zwischen der Galaterperikope und einem römischen Testament (P.Ryl. 2.153).
J. R. Wagner (67–82) fragt nach dem Verständnis der Gesetzesgabe in den Briefen an die Galater und an die Römer. Er betont, dass nicht das Gesetz für Paulus im Vordergrund steht, sondern Christus. Laut den herangezogenen Paulusbriefen sei das Gesetz von der Sünde okkupiert worden und für die Christusgläubigen heilsgeschichtlich ohne Belang.
Die Studie von R. E. Ciampa (83–99) eröffnet die Trias der Aufsätze, die sich schwerpunktmäßig mit 1Kor 10 auseinandersetzt. C. fragt nach der Funktion von 1Kor 10,1–22 innerhalb von 1Kor 8–11. Er verweist darauf, dass die Kapitel 8–11 durch die Motive »Essen und Trinken« zusammengehalten werden. Mit diesen Motiven werden sowohl der Götzenopferkult als auch das Abendmahl (»Christus als Speis und Trank«) assoziiert. Mit seinen Ausführungen gebe Paulus seinem Lesepublikum »Gedankennahrung« (»food for thoughts, or thoughts about food«, 99).
M. Konradt (101–120) versteht die Perikope 1Kor 10,1–11 als »Bildungsreise« für die Angehörigen der Gemeinde in Korinth. Paulus setze nicht voraus, dass die Gemeindeglieder mehrheitlich seine Schriftbezüge und Anspielungen verstehen. Der Text soll entschlüsselt werden und ist darauf angelegt, dass die gebildeteren unter den Gemeindegliedern ihn den anderen erklären. Das göttliche Handeln, das in den Exodusparallelen und in den historischen Psalmen beschrieben wird, diene als Vorbild für Taufe und Abendmahl. Dabei habe die Exodusüberlieferung keinen minderen Rang, sondern die Parallelisierung vermittle der Gemeinde, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Das Heil müsse gelebt werden, und als Option stehe die Verwerfung noch immer im Raum. Das Studium der Schrift helfe, die Fehler der Väter zu vermeiden.
Auch B. J. Oropeza (121–137) stellt Überlegungen bezüglich der Schriftkenntnis der Korinthergemeinde an. O. ist diesbezüglich aber optimistischer als Konradt und setzt eine solide Kenntnis voraus, denn Paulus sei in der Gemeinde vor allem als Lehrer und kaum als Handwerker (Zeltmacher) tätig gewesen. Dennoch geht auch O. von der Notwendigkeit aus, dass sich die Gemeindeglieder gegenseitig unterrichteten. Er warnt im vorletzten Abschnitt vor der negativen Wirkung der Teilnahme an kultischen Mählern, die Dämonen (Götzen) gewidmet sind. Dadurch würden auch die Starken in der Gemeinde gefährdet. Das Lied des Mose (Dtn 32) sei als Hintergrundmelodie von 1Kor 10 mitzuhören.
Den dritten Block der Untersuchungen eröffnet F. Wilk (139–154) mit der Frage nach der Funktion der Verse 2Kor 3,4–18 in ihrem literarischen Zusammenhang. Er analysiert, wie nach dem gescheiterten zweiten Besuch des Paulus in Korinth das Vertrauensverhältnis zwischen Paulus samt seinen Mitarbeitenden und der Gemeinde wiederhergestellt wird. Das Schreiben auf Steintafeln durch Mose stellt Wilk neben das Schreiben auf »Tafeln (von) ›fleischernen Herzen‹« (2Kor 3,3). Paulus rechtfertige sein Apostelamt und stelle sein Tun als einen Dienst an der Erkenntnis Gottes in Christus dar. Damit präsentierten sich Paulus und seine Mitarbeitenden als der eigentliche Ruhm der Gemeinde.
S. Hafemann (155–180) vergleicht den Dienst des Paulus mit dem des Mose. Er deutet das Verhüllen mit einem Schleier in 2Kor 3,10 nicht als ein Verbergen eines schwindenden und damit zweitrangigen Glanzes des Mose, sondern als ein Außerkraftsetzten der fürchterlichen Wirkung solchen Glanzes (Ex 34,29–35). Nach H. bietet der Dienst des Mose die Todesdiagnose. Dagegen sei der Dienst des Paulus die Therapie, die jedoch von vielen Jüdinnen und Juden wegen ihrer verhüllten Herzen nicht wahrgenommen werde.
C. Werman (181–208) fragt, was Mose zu welchem Zeitpunkt ausgehändigt bekommen hat. Dazu betrachtet sie 2Kor 3 im Vergleich mit anderen Schriften aus der Zeit des zweiten Tempels. Im Unterschied zu Hafemann geht W. von dem verblassenden Glanz des Mose aus. Sie stellt die Sinai-Epiphanie bei Paulus den Darstellungen in zeitgenössischen jüdischen Schriften gegenüber und fragt, ob und wie sich die Diskrepanzen zwischen der Schilderung in Exodus und der in Deuteronomium in der Interpretation des Paulus niederschlagen. Wichtig ist ihre Bemerkung, dass die (scheinbaren) Widersprüche in der Darstellung im Pentateuch von den einzelnen Interpreten zu Deutungen genutzt werden, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen. Der Vergleich der unterschiedlichen Zeugnisse ergebe unter anderem, dass die Interpretation in den Texten aus Qumran im Wesentlichen mit der Deutung im vierten Esrabuch übereinstimme, und dass das Jubiläenbuch versuche, eine kohärente Deutung zu bieten. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Interpretationen erweise sich Paulus als ein sorgfältiger Exeget der alttestamentlichen Tradition.
F. Wilk und J. A. Cowan bezeichnen in ihrer Einleitung (1–6) die Sammlung mit Recht als vielstimmigen Türöffner zu einer lohnenden Fragestellung, die in der behandelten Konstellation bisher kaum im Fokus der Forschung stand.
Ausführliche Register und Verzeichnisse (209–270) schließen den Band ab.