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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

209–211

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kim, Seon Yong

Titel/Untertitel:

Curse Motifs in Galatians. An Investigation into Paul’s Rhetorical Strategies.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIII, 245 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 531. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161555893.

Rezensent:

Martin Meiser

Die Arbeit von Seon Yong Kim beansprucht, einen Beitrag zum besseren Verständnis der argumentativen Logik im Galaterbrief zu leisten. In der Einleitung (1–14) benennt K. vier s. E. bisher unzureichend berücksichtigte Sachverhalte: das Fluchmotiv, die komplexe Schriftinterpretation, in der Schrift gegen Schrift zu stehen kommt, die kompromisslose Abrogation der Beschneidung (es geht in Gal 5,4 nicht um die fehlende Notwendigkeit!) und das Fehlen jeder Erörterung der mit dem Verzicht auf die Beschneidung angesprochenen Reinheitsthematik. Diese Sachverhalte, unter dem Fluchmotiv vereinigt, würden von Paulus in einer Rhetorik angewandt, die weniger inhaltlich argumentiert, vielmehr fast ausschließlich die Gefühle der Adressaten zu beeinflussen sucht.
In einem zweiten Kapitel (15–52) bietet K. eine Kritik an einigen Kritikern der New Perspective on Paul (bei der Kritik an Sanders’ Bundesnomismusmodell werde zu wenig berücksichtigt, dass Sanders auf Vorannahmen zielt, die, da selbstverständlich, kaum je thematisiert werden), aber auch an Vertretern der New Perspective selbst (Dunns Auslegung von Gal 5,4 berücksichtige nicht den Un­terschied zwischen need not und must not; die Rhetorik des redefining, reshaping, reframing etc. sei als analytische Kategorie un­brauchbar).
In einem dritten Kapitel (83–85) wird die Prämisse, dass Paulus spezifische kulturelle und religiöse Vorannahmen seiner Adressaten aufgreift, auf das Fluchthema angewandt. Texte aus griechisch-römischer Umwelt (60 f.), speziell aus Anatolien (75–81), belegen die Vorstellung strafender Gottheiten. Umgekehrt bestreitet K. von der genannten Prämisse aus den Sinn jeglichen Versuches, das Ge­setzesverständnis des Paulus innerhalb des frühjüdischen Diskurses zu verorten – es sei weniger deskriptiv als rhetorisch zu würdigen, weswegen sich auch nicht fragen lasse, ob Paulus die Tora als erfüllbar betrachte oder nicht (82–85).
Das vierte Kapitel (87–130) ist der Betrachtung der Rhetorik gewidmet. Paulus zeichne die Fremdmissionare als böse Zaube-rer, denen er, wie Cicero gegenüber Catilina, das göttliche Gericht androht. Der Rekurs auf rhetorische Praxis (nicht nur Theoriebildung) ist angemessen mit Parallelen aus Ciceros Reden gegen Catilina konkretisiert. Zu Gal 1,10 (»Suche ich denn Gott zu überreden?«) zieht K. unter Aufnahme von Hans Dieter Betz sprichwörtliche Redensarten heran, deren Charakterisierung als »magisch« nicht immer zwingend scheint (92). Der paulinische Schriftgebrauch gilt als rein situativ begründet und rhetorisch stilisiert (97 f.). Paulus kombiniere in Gal 3,10.13 die Furcht vor der Wirkmächtigkeit des Fluches mit der Segenserfahrung, um die Schwäche seiner Argumentation zu überdecken, dass seine Exegese von Dtn 27,26; 21,23 keinen Anhalt am Text habe (100). Die rein rhetorisch stilisierte Behandlung des Themas »Gesetz« ist auch die Ursache dessen, dass Paulus von den Möglichkeiten des Gesetzes schweigt, ein positives Gottesverhältnis aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen (105), und einen Abgleich mit anderen jüdischen Perspektiven nicht für erforderlich hält (108 f.). Die antike rhetorische Übung, für beide Optionen in einer Streitfrage Argumente beizubringen, soll verständlich machen, dass Pauls den Literalsinn wie einen übertragenen Sinn von Schriftstellen in seine Argumentation einbezieht. Was Paulus aus der Normativität des Christusereignisses für die Schriftbehandlung ableitet, sei ebenfalls nicht dogmatisch, sondern rhetorisch motiviert (126).
Ein fünftes Kapitel (»Reading Galatians through the Lens of the Curse Theme«, 131–209) bietet Einzelexegesen. Zur Wendung ὃς παρέδωκεν ἑαυτὸν … ἐκ τοῦ αἰῶνος τούτου in Gal 1,4 wird aus der Beobachtung, Jes 53,6 thematisiere nicht das stellvertretende Sterben, und aus zwei Paralleltexten aus griechisch-römischer Umwelt, den Gott Aion betreffend (PGM IV 1169–1206; 2194–2205), gefolgert, der Begriff αἰών sei nicht apokalyptisch zu deuten, vielmehr der Name einer Gottheit, der sich Jesus freiwillig ausgeliefert habe. 1Thess 5,1 f.; 2Kor 4,4; Röm 13,11–14 müssten allerdings berücksichtigt werden. In Gal 2,11 gilt Petrus als negatives Beispiel, das die Galater warnen soll; κατεγνωσμένος ist passivum divinum (155), Freiheit ist pneumatologisch basierte Autonomie (160). Die Frage, wie Paulus den Dienst an den στοιχεῖα τοῦ κόσμου mit Tora- und jüdischer Kalenderobservanz zusammenbinden kann, versucht K. mit Hinweis auf magische Papyri (dass es in Gal 3,3 um »perfection through the body« geht [167], ist m. E. freilich alles andere als sicher) und die synkretistische Assimilierung der Gottheit »Aion« mit traditionellen und lokalen Gottheiten zu beantworten. Das Verständnis von Gal 3,10–14 unter den Prämissen von Gal 1,4.8 f.; 2,11 ergibt, dass die rhetorisch zu würdigende Argumentation des Apostels auf nichts anderes abzielt, als dass er die Adressaten nicht verlieren will und deshalb sein Verständnis des Evangeliums absolut setzt. Der Fluch über die, die aus dem Gesetz sind (Gal 3,10), resultiert daraus, dass sie nicht das in Hab 2,4 enthaltene und von Paulus absolut gesetzte Prinzip des Glaubens verfolgen (183). Gal 4,21–31 hat textpragmatisch die Spitze in dem als implizite Fluchdrohung verstandenen Vers Gal 4,30; die Anwendung der Allegorese zielt wiederum auf das πάθος der Adressaten (188). Gal 5,4.21fine werden auf dem Hintergrund dessen gelesen, was es heißt, aus dem Bund herauszufallen (204 f.208 f.).
Das Urteil des Rezensenten über diese Arbeit fällt gespalten aus. Gewinnbringend sind die Parallelen aus Cicero, teils aus De inventione, teils aus Ciceros rhetorischer Praxis geschöpft, oder auch die Heranziehung von SEG 14, 615 oder CIL 11/2, 4639 (192). Richtig ist die Betonung der von Paulus geforderten Konsistenz des Christenlebens (163). Anregend sind Einzelvorschläge, z. B. die Idee, Gal 5,4 als negative mirror reading von Gen 17,14LXX zu lesen (115.197). Wenig überzeugend ist die für die Arbeit insgesamt entscheidende Deutung des Begriffs αἰών (Gal 1,4) – schon die Näherbestimmung τούτου spricht dagegen. Mit Hilfe des Formalismus römischer Religiosität den normativen Charakter des Glaubensprinzips er­klären zu wollen (118 f.), hat offene Wendungen wie πίστις δι’ ἀγάπης ἐνεργουμένη (Gal 5,6) gegen sich (überhaupt wünschte man sich mehr geduldige Einzelexegese!). Apodiktische Urteile über das paulinische Schriftverständnis würden durch tiefergehenden Vergleich mit dem Schriftgebrauch in Qumran relativiert. Rezeptionsästhetik und Rhetorik drohen, da vereinseitigt und verabsolutiert, die Rückfrage nach theologischer Sinnhaftigkeit paulinischer Aussagen ungebührlich zurückzudrängen (man fragt sich hier wie bei anderen rein auf Rhetorik fokussierten Arbeiten, warum ein derart wahrgenommener Galaterbrief die Lektüre überhaupt noch lohnt; ein sinnvoller [!] Paradigmenwechsel, wie ihn K. beansprucht [14 f. 212], ist damit jedenfalls nicht erreicht). Irritierend ist die unangemessene Wahrnehmung des bisher Geleisteten. Manche einschlägigen Arbeiten zur Rhetorik des Galaterbriefes (Anderson, Forbes, Hietanen, Mayordomo, Mitternacht) sind, so­weit ich sehen kann, nicht ausgewertet, ebensowenig Cilliers Brey tenbachs Arbeiten zur historischen Kontextualisierung, die ein erheblich präziseres Bild einzelner Städte und Landschaften ergeben können.