Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2022

Spalte:

207–209

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jung, In

Titel/Untertitel:

Passio Christi, Tribulatio Discipuli. Eine exegetische und narratologische Untersuchung zu den Leidensvorstellungen des lk Doppelwerks.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 208 S. m 22 Abb. u. 7 Tab. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 125. Geb. EUR 70,00. ISBN 9783525560402.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Zu den Themenlinien, die das lukanische Doppelwerk durchziehen, gehört auch die des Leidens. Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Passion Jesu, die von Lk als ein vorbildliches Martyrium entworfen wird. Dazu setzt der Evangelist die Leidenserfahrungen der Schüler Jesu bzw. der frühen christlichen Gemeinde auf eine sorgfältig reflektierte Weise in Beziehung. Entwirft er dabei auch eine spezifische Hermeneutik des Leidens? Dieser Frage geht die vorliegende Arbeit, eine Heidelberger Dissertation, nach. Sie fasst die Beziehung zwischen dem Geschick Jesu und dem seines Anhängerkreises in die Begriffe von passio und tribulatio, die auf πάθημα und θλῖψις zurückgehen. Konsequent ordnet Lk beide Begriffe, die ansonsten auch weitgehend synonym verwendet werden können, verschiedenen Subjekten zu und unterscheidet somit klar zwischen dem Leiden Christi und der Bedrängnis seiner Schüler. In welchem Sinne dies geschieht, wird methodisch mit Hilfe der narratologischen Analyse ermittelt.
Der Gang der Untersuchung entfaltet sich in drei Kapiteln: das erste begründet die These, dass Lk im Passionsbericht die Geschichte Jesu und die seiner Schüler überblende und die eine in der anderen gleichsam miterzähle; das zweite arbeitet die Hierarchie und Ungleichheit zwischen Passio und Tribulatio heraus; das dritte skizziert in Umrissen, was daraus für eine Hermeneutik des Leidens bei Lk folgt.
Kapitel I beantwortet die Frage, ob sich die christliche Gemeinde mit ihren Leidenserfahrungen erst in Act oder nicht auch schon im Passionsbericht des Lk wiedererkennen könne, mit einem entschiedenen Ja. Indizien für eine solche Sicht finden sich etwa da, wo die Jünger Zielgruppe der Versuchungen Satans und Begleiter der Versuchungen Jesu sind oder aktiv im Gebet allen Versuchungen widerstehen. Wie ihr Lehrer geraten auch sie während der Passionsereignisse in interne wie externe Spannungen. Sie erweisen sich dabei als Co-Objekte der Versuchung und als Co-Subjekte des Leidens Christi. In ihrer Gesamtheit stellen die Bedrängnisse der Jünger somit eine Art Subplot der Passion Christi dar – eine These, die mit dem Modell der »multiple story line« operiert. Lukas nimmt in seiner Konzeption des Passionsberichtes eine multidimensionale Erweiterung des Settings vor, um Zeit und Raum für einen eigenen Jünger-Erzählstrang zu schaffen und zugleich eine Distanz zwischen Jesus und seinen Jüngern aufzubauen. Ferner erweitert und differenziert er zu diesem Zweck die Merkmale und Rollen der handelnden Figuren, was die »Ezählbarkeit« der Jüngergeschichte (et­wa gegenüber Markus) deutlich erhöht. Die Figurenkonstellation zwischen Jesus und seinen Jüngern verändert Lk insofern, als die Letzteren bezüglich des Leidens nicht mehr Kontrast-, sondern Parallelfiguren sind. Alle Elemente der Jüngergeschichte erweisen sich für die Erzählung von der Passion Christi als unentbehrlich. Die Tribulatio Discipuli kann somit geradezu als ein Musterbeispiel für die Generierung eines neuen Erzählstranges verstanden werden. Dieser Strang antizipiert bereits die Darstellung der Jünger in Act. Zunächst fungieren sie jedoch noch als Kontagonisten, als Figuren also, die mit ihrer Geschichte die Passion Jesu im Haupt-Plot verzögern. Jesus ist nicht nur mit seinem eigenen Geschick, sondern als Patron auch mit der Bedrängnis seiner Jünger befasst.
Kapitel II nimmt die Asymmetrie zwischen der Passio Christi und der Tribulatio Discipuli in den Blick. Das geschieht vor allem mit Hilfe des narratologischen Modells der Leserempathie-Lenkung. Ausgangspunkt ist eine Analyse von Verteilung und Ge­brauch der entsprechenden Termini im Neuen Testament, im Besonderen aber bei Lk, der hier eine spezifische Verwendungsweise erkennen lässt: »Bei Lukas sind πάσχω- und θλίβω-Stamm nach dem Leidenssubjekt voneinander zu unterscheiden.« (104) Beide sind erkennbar als termini technici gebraucht. Dieser Differenzierung entspricht eine Hierarchisierung in der erzählten Welt. Lukas prägt ein so einzigartiges Verständnis vom Leiden Christi aus, dass die Leserschaft die Leiden der Jünger sowie ihre eigenen Leidenserfahrungen damit kaum noch zu identifizieren vermag. Zwischen beiden Leidenstypen gibt es auch keine metaphorische Gleichsetzung. Vielmehr gilt die Passion Christi als singuläre Ursache für die Bedrängnis der Jünger. »Kurzum, die Passio Christi ist ein Leidens typ des Patrons, die Tribulatio Discipuli der der Klienten.« (122) Indem Jesus zu einer »fernen Figur« wird, erscheinen die Jünger umso deutlicher als »nahe Figuren«. Nach einer methodischen Vorklärung dieser narratologischen Kategorie prüft J. den Befund anhand von vier detaillieren Textvergleichen durch: 1. Jesus und seine Schüler im Doppelwerk, 2. Kreuzigung Jesu und Steinigung des Stephanus, 3. markinischer und lukanischer Passionsbericht, 4. letztes Mahl Jesu und Abschiedrede des Paulus in Milet. Das führt zu dem Fazit: »Die Rezipienten fühlen sich insofern mehr den Jüngern als Jesus ›nahe‹ und können sich in sie stärker hineindenken.« (175)
Kapitel III bietet einen kurzen Ausblick, der den Gewinn der Leidensthematik für die Frage nach Einheit und Abfassungszweck des lukanischen Doppelwerks fruchtbar zu machen versucht. Das Modell einer schlichten Parallelisierung zwischen beiden Teilen erweist sich angesichts der Eigenheiten von passio und tribulatio als schwierig. Eher empfiehlt sich deshalb das Modell einer »Spirale«, die in wenigstens vier Windungen aufsteigt und darin eine Entwicklung der Thematik abbildet: 1. dem Leiden Jesu und dem Mit-Leiden der Jünger folgt die Gründung der Jerusalemer Urgemeinde, 2. dem Leiden des Stephanus und dem Mit-Leiden der frühen Christenheit folgt die Ausbreitung des Evangeliums zu den Griechen; 3. dem Leiden des Paulus und dem Mitleiden des erzählenden »wir« folgt die Ausbreitung des Evangeliums bis nach Rom; 4. dem angedeuteten Leiden bzw. Ende des Paulus in Rom und dem Mit-Leiden des Lesepublikums der Act folgt die Ausbreitung des Evangeliums bis in die jeweilige Gegenwart hinein. »Obwohl Christen die Bedeutung oder die Notwendigkeit von Leiden nicht immer verstehen, sollen sie in aktuelle Leiden der Mitmenschen sich mitleidend hineinfühlen, für und mit Christus eigene Leiden aufnehmen, bis ›sie durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen‹ (Apg 14,22).« (183)
Mehrere Schaubilder, Tabellen und Graphiken sind in den Text eingefügt und mit längeren Ausführungen zur Methodik unterlegt. Unübersehbar führen sie den Stellenwert der bearbeiteten Passagen vor Augen. Immerhin – dass die Leidensthematik bislang eher im Abseits der Lukas-Exegese stand, lässt sich durchaus nachvollziehen. Anders als bei Mk/Mt ist der Tod Jesu bei Lk eben nicht der eine Dreh- und Angelpunkt, auf den sich das Heilsgeschehen konzentriert. Bei ihm verwirklicht sich die »Proexistenz« Jesu im Leben und Sterben gleichermaßen. Leiden wird immer wieder ausbalanciert von der Freude, die Jesu Botschaft auslöst und mit der seine Schüler nach Ostern aufbrechen. Das »two level drama« des Lk kommt vor allem in seinem Mittelabschnitt (der central section) zum Vorschein, wenn »auf dem Weg« Lebensfragen der christlichen Gemeinde behandelt werden. Umso mehr liefert der präzise, differenzierte Blick auf die Leidensthematik einen wertvollen Baustein für das Gesamtbild lukanischer Theologie. Dieses Thema in seiner semantischen Vielschichtigkeit, exemplarischen Geltung und narrativen Verflechtung sichtbar gemacht zu haben, ist das große Verdienst dieser Arbeit.