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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

204–207

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Edelmann, Jens-Arne

Titel/Untertitel:

Das Römische Imperium im Lukanischen Doppelwerk. Darstellung und Ertragspotenzial für christliche Leser des späten ersten Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XV, 289 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 547. Kart. EUR 84,00. ISBN 9783161601118.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Mit großer Selbstverständlichkeit zeichnet das lukanische Doppelwerk die Geschichte Jesu Christi wie auch die seiner frühen Anhängerkreise in die Welt des römischen Imperiums ein. Daran haben sich seit jeher Fragen entzündet: Wie nimmt Lukas das Imperium Romanum wahr? Ist es eine Größe, von der er die christlichen Ge­meinden seiner Zeit bedroht sieht, oder deren Infrastruktur er als Chance begreift, oder um deren Wohlwollen er wirbt, oder die er mit einer Mischung aus Anerkennung und Kritik betrachtet, oder …? Eine klare Antwort auf diese Fragen fällt nicht leicht, da Lukas aufgrund der ihm eigenen »Unbestimmtheit« verschiedene Möglichkeiten offenlässt und den Ball immer wieder seiner Leserschaft zuspielt. Den nimmt die Arbeit von Jens-Arne Edelmann, eine Göttinger Dissertation von 2020, auf: Ausgangspunkt ist die Ermittlung jener Zielgruppe, für deren Lektüre der Text bestimmt sein könnte, was dann – erstmals in monographischer Breite – an allen relevanten Perikopen des lukanischen Doppelwerkes überprüft und auf die Pragmatik seiner vielschichtigen »Rom-Bilder« hin un­tersucht wird.
Am Anfang (Teil 1) steht ein kompakter Forschungsüberblick. Ausgehend von der alten These, Lukas liefere eine Apologie (sei es primär oder wenigstens als Nebeneffekt), wird vor allem die Diskussion im 20. Jh. gemustert. Weite Verbreitung erlangt dabei die Annahme, Lukas wolle gegenüber dem römischen Staat Entwarnung signalisieren; die christlichen Gemeinden seien keine subversive Kraft und stellten somit auch keine Gefahr dar. Dem tritt die Ansicht entgegen, dass Lukas an solchen Signalen gar nicht interessiert sei und schlicht berichte, was ihm überliefert ist und was er selbst erlebt. Andere erkennen in der lukanischen Konzep-tion sehr wohl ein kritisches Potential gegenüber staatlicher Macht, beurteilen es aber auf differenzierte Weise: im Rahmen der unumgänglichen Suche nach einem modus vivendi oder im Sinne einer offenen Konfrontation; postkoloniale Deutungsmodelle stehen neben Versuchen, bereits bei Lukas eine Unterscheidung zwischen Gemeinde und Staat bzw. Kirche und Welt festzumachen.
Grundlegenden Charakter haben sodann Überlegungen zum Lesepublikum des Doppelwerkes (Teil 2). Sie setzen bei jenen Bedrängnissen an, die in Lk 21,12–19 (12,11–12) zur Sprache kommen. Dabei geht es wohl um Gerichtsverfahren auf lokaler Ebene wie andeutungsweise auch schon vor Statthaltern. Vorgeführt werden die Betroffenen vor allem »um meines Namens willen«, was als Indiz für erste Christenprozesse zur Zeit des Lukas verstanden werden kann. Die Initiative geht dazu weniger von staatlicher Seite als vonseiten der Bevölkerung und der lokalen Behörden aus; der Staat scheint sich hingegen (wie in dem berühmten Plinius-Rescript) eher reaktiv zu verhalten. Das alles weist auf eine Entwicklung hin, wie sie seit Domitian zunehmend sichtbar wird. Obwohl sich die christlichen Gemeinden aus allen sozialen Schichten zusammen setzen, werden ihre Mitglieder (vorwiegend Bürger von Poleis) doch mehr und mehr von Ehrenämtern oder öffentlichen Karrierewegen ausgeschlossen. An Festen nehmen sie aufgrund der geforderten religiösen Loyalität nicht teil; Berufe im Bereich von Religion, Militär oder Verwaltung bleiben ihnen verwehrt. Damit wird eine Situation, die sich in der späteren Zeit der Verfolgungen deutlich belegen lässt, in ihren ersten Anfängen schon bei Lukas vorausgesetzt. »Christen« erscheinen damit als Außenseiter, denen man mit Vorbehalten und Verdächtigungen begegnet, die gegenüber den Repräsentanten des Staates kaum Kontakte haben und dabei in einer latenten Bedrohungssituation leben. »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die von mir rekonstruierten christlichen Leser in ihrer Beziehung zum Römischen Imperium verunsicherte Leser waren.« (37) Ihnen in erster Linie gilt der Zuspruch des Evangelisten, dessen Werk somit im Binnenraum gemeindeinterner Lektüre verbleibt.
Das Herzstück der Untersuchung (Teil 3) besteht aus einem erzählchronologisch geordneten Durchgang durch beide Teile des Doppelwerkes, in dem alle relevanten Perikopen (18 bei Lk / 21 in Act) unter einer gemeinsamen Perspektive analysiert werden.
Im Evangelium markiert das Magnifikat als Ausdruck der »kontrafaktischen Realität Gottes« die Rahmenbedingungen für die folgende Inszenierung römischer Machtstrukturen, die somit von vornherein unter den »Vorbehalt von Gottes Wirken und Sein« ge­stellt sind. Was über Augustus und seine Friedensherrschaft sowie über die Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten durch die Frommen gesagt wird, beschreibt zunächst weitgehend wertfrei die gegebene Situation. Dennoch lässt sich bereits hier eine implizite Infragestellung der Macht Roms nicht übersehen, wenn die Geburt des Kindes als eines Retters gepriesen und Friede als Initiative Gottes verkündet wird. Explizit äußert sich Kritik (und das sogleich in äußerster Schärfe) in der Versuchungsgeschichte, wo der Diabolos die Hoheit über alle politische Macht für sich in Anspruch nimmt. Staatliche Behörden erweisen sich in ihrer Haltung gegenüber der Jesusbewegung bzw. der christusgläubigen Gemeinde als ambivalent. E. spricht hier von »oszillierenden« Schilderungen und »subtiler Relativierung der Herrschaft Roms«. Nicht nur das Imperium hat Ansprüche an die Christen; dieselben begegnen dem Staat ebenfalls mit Erwartungen, wie die Standespredigt des Täufers zeigt. In der Figurenzeichnung des Hauptmanns von Kafarnaum zeigen sich Macht und Ohnmacht gleichermaßen. Der Geist Gottes, der den verunsicherten Glaubenden beisteht, ist stärker als die Macht Roms. Dass zwischen Gott und Staat unterschieden werden muss, legt das Streitgespräch über die Steuermünze nahe. In der Figur des gegenseitigen Dienens, die Jesus den Seinen als Vermächtnis hinterlässt, wird Herrschaft »theologisch von innen ausgehöhlt«. Im Prozess Jesu begeht Pilatus einerseits Verfahrensfehler und Inkonsequenzen, betont jedoch andererseits mehrfach die Unschuld Jesu, sucht nach Auswegen und stimmt schließlich der Bestattung zu. Mehrdimensionalität in der Darstellung staatlicher Wirklichkeit beherrscht das Bild; die Funktionsträger politischer Macht treten in verschiedenen Rollen und Verhaltensweisen auf; der Grundton, den das Magnifikat anschlägt, hält sich durch.
In der Apostelgeschichte setzt die Pfingsterzählung ein erstes Signal, indem die Völkerliste das römische Imperium relativiert und zugleich überschreitet. In der Tempelrede des Petrus erscheint es als eine von Gott überwundene Macht; im Gemeindegebet hat es die Gestalt einer feindlichen Größe. Die Schlüsselerzählung um den Centurio Kornelius setzt Gott als denjenigen in Szene, der die Gegensätze überwindet und eine neue Gemeinschaft zwischen Juden und Völkerwelt stiftet. Mit Sergius Paulus auf Zypern wird ein Statthalter für das Evangelium gewonnen. Die Episoden in Philippi nehmen erstmals die kulturelle Identität Roms in den Blick; Paulus und seine Begleiter müssen sich hier den Vorwurf »unrömischer Sitten« gefallen lassen. Dass man ihnen in der Folge auch Unruhestiftung vorwirft, setzt Rom als Ordnungsmacht und Rechtsinstanz ins Bild, bei der Überstellung des Paulus nach Rom schließlich auch als Schutzmacht. Während der Romfahrt gewinnt die Beziehung zwischen dem Apostel und seinen Bewachern geradezu den Charakter eines Vertrauensverhältnisses. In Rom bleibt Lukas dann überraschend zurückhaltend; alles Lokalkolorit blendet er völlig aus. Insgesamt setzt die Apostelgeschichte fort, was im Evangelium begann: Anerkennung und Relativierung Roms bleiben die maßgeblichen Aspekte. Als neuer Zug tritt Rom als Kulturraum in den Blick. Deutlich ausgebaut wird der Gedanke, dass Gott letztlich auch hinter dem Handeln aller Repräsentanten Roms steht. Kurz: Das Imperium erscheint als historische Gegebenheit, als Schutzraum und Rechtsinstanz sowie als Kulturraum; seine Vertreter sind durch ambivalentes Verhalten gekennzeichnet; das Imperium ist Wirkungsfeld des Diabolos und muss sich dennoch der Macht Gottes unterordnen.
Am Schluss kehrt die Arbeit zu den einleitenden Überlegungen zurück (Teil 4) und fasst das Ertragspotential der einzelnen Exegesen zusammen. Die »verunsicherten Leser« nehmen das Imperium in unterschiedlichen Lebenssituationen wahr – als bedrohlich und herausfordernd, aber auch als stabilisierend und dienlich. Das Verhalten staatlicher Behörden bleibt uneinheitlich, wofür Lukas gleichsam verschiedene Modellsituationen vorstellt. »Gerade weil das Doppelwerk die Existenz Roms nicht grundsätzlich infrage stellt, ruft es die Leser der Zeit auf, sich aktiv mit dem Imperium auseinanderzusetzen.« (209) Die Botschaft, dass Gottes Handeln hinter dem Wirken Roms steht, musste für sie Trost und Stärkung bedeuten. Denn: »Rom ist letztlich nur die Folie, vor der Lukas die Herrschaft Gottes im irdischen und erhöhten Jesus entfaltet.« (212) Der faktischen Machtausübung Roms stellt Lukas eine Ethik der Demut gegenüber, »die ihren Grund nicht im hingebungsvollen Dienst für den Staat, sondern in Jesu eigenem Leben und Handeln findet« (216 f.).
Ein letztes, kurzes Fazit (Teil 5) präzisiert die pragmatische Stoßrichtung des Lukas: »Sicherheit für die Verunsicherten«. Zu dem »sicheren Grund der Lehre«, den Lk 1,4 zu vermitteln beabsichtigt, gehört auch die Stärkung des Lesepublikums gegenüber Gesellschaft und Staat. »Im Vollzug des Lesens erfährt schließlich der Rezipient: Die Macht Gottes übersteigt die Macht Roms.« (223)
Das Buch entwirft ein detailliertes Bild staatlicher Wirklichkeit, wie sie sich für die christlichen Gemeinden am Ende des 1. Jh.s darstellt und im Text des lukanischen Doppelwerkes niederschlägt. Es geht über die bisherige Forschung hinaus, indem es nicht mehr nach einem Generalschlüssel sucht, sondern die Ambivalenzen der lukanischen Erzählung ernst nimmt. Offensichtlich liegt es in der Absicht der Texte, die verwirrende, vielschichtige, inkonsequente, aber damit eben auch immer wieder offene Situation als Chance zu verstehen. Lukas will den Verunsicherten Orientierung vermitteln; er will sie ermutigen, stärken und zu einer eigenständigen Auseinandersetzung mit ihrer politischen Wirklichkeit anregen. Er liefert keine glatten Thesen und Positionen, sondern verwickelt in komplexe Diskurse. Das vorliegende Buch hat diesen Aspekt auf hilfreiche und überzeugende Weise erschlossen.