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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

186–189

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dubovský, Peter, and Federico Giuntoli [Eds.]

Titel/Untertitel:

Stones, Tablets, and Scrolls. Periods of the Formation of the Bible.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XVI, 576 S. = Archaeology and Bible, 3. Kart. EUR 159,00. ISBN 9783161582998.

Rezensent:

Michael Pietsch

Seit dem 17. Jh. beschäftigt die wissenschaftliche Bibelauslegung intensiv die Frage nach der Verfasserschaft und der Literaturgeschichte der biblischen Schriften. Was einst mit einer Kritik der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuchs begann, hat sich längst zu einem differenzierten und hochgradig spezialisierten, interdisziplinären Diskurs über die Entstehungsgeschichte des Alten Testaments ausgeweitet, der zu einer Vielzahl divergierender Interpretationsansätze geführt hat und in seiner Gesamtheit von einem Einzelnen kaum mehr zu überschauen ist. Die Antwort auf die Frage, »how the Bible came to be« (3), galt bisweilen geradezu als das eigentliche Ziel der exegetischen Arbeit. Dies ist heute zwar weithin als eine unsachgemäße Engführung erkannt, dennoch ge­hört die Beantwortung jener Frage zu den bleibenden Herausforderungen, denen sich die alttestamentliche Wissenschaft in jeder Generation neu stellen muss.
Vor diesem Hintergrund widmen sich die 21 Beiträge des vor-liegenden Sammelbandes, die auf eine interdisziplinäre Tagung zurückgehen, die vom 11. bis 13. Mai 2017 am Päpstlichen Bibel-institut in Rom stattgefunden hat, vornehmlich jenen vier ge­schichtlichen Perioden, die besonderen Einfluss auf die Kultur-, Religions- und Literaturgeschichte Israels und Judas wie der ge­samten südlichen Levante genommen haben: der assyrischen, babylonischen, persischen und griechisch-römischen Epoche vom 9./8. bis zum 1. Jh. v. Chr. Wie der Titel der Tagung (und des Sammelbandes) bereits programmatisch intoniert, suchen die einzelnen Beiträge mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung Antworten auf die eingangs gestellte Frage im interdisziplinären Gespräch zwischen Vorderasiatischer Archäologie, semitischer Epigraphik und alttestamentlicher Exegese zu geben.
Die Anlage des Sammelbandes spiegelt dessen Programmatik wider und ist in sechs Abschnitte untergliedert, die den jeweiligen Epochen zugeordnet werden. Der erste Hauptteil enthält zwei Beiträge, die übergreifende hermeneutische Fragestellungen diskutieren: D. V. Edelman gibt einen Überblick über die literarischen Formen der israelitischen Literatur und ihre soziologischen und ideologischen Voraussetzungen von der assyrischen bis zur persischen Zeit und votiert u. a. für eine perserzeitliche Entstehung der Bücher (!) Genesis und Könige. J. L. Ska fragt am Beispiel der Rechtsprechung im Anschluss an F. C. von Savigny und H. A. Klostermann nach der Bedeutung von Mündlichkeit für die Literaturgeschichte des Alten Testaments.
Der zweite und dritte Abschnitt versammelt Studien zur assyrischen Epoche. Im ersten Teil finden sich drei Beiträge, die der ersten Phase der assyrischen Westexpansion bis zum Herrschaftsantritt Tiglatpilesers III. gewidmet sind: P. Dubovský rekonstruiert die Anfänge der israelitischen Historiographie unter den Nimschiden (9./8. Jh. v. Chr.) anhand eines Vergleichs der Einzelüberlieferungen in 2Kön 13 f. mit zeitgenössischen historiographischen Dokumenten der südlichen Levante und kommt zu dem Schluss, dass die Konfrontation mit der assyrischen Macht in den syrischen Kleinstaaten zum Beginn einer historiographischen Selbstreflexion ge­führt habe. I. Finkelstein rekonstruiert ältere, israelitische Tradi-tionsstücke in den Samuel- und Königebüchern, die unter Jero-beam II. verschriftet worden seien und in denen ein politischer Ho­heitsanspruch Samarias über Juda erkennbar werde, der in späterer Zeit von der deuteronomistischen Historiographie zum Konzept der Doppelmonarchie Davids und Salomos umgestaltet wurde. In die gleiche Epoche, die Regierung Jerobeams II., datiert T. Römer in seinem Beitrag die literarischen Anfänge der israelitischen Exodus-, Jakob- und Ladeüberlieferungen.
Den dritten Abschnitt eröffnet die Studie von A. M. W. Hunt, die anhand der Verbreitung der assyrischen palace ware nach der identitätsstiftenden Funktion materieller Kulturgüter im von Assyrien kontrollierten Machtbereich fragt und besonders deren soziale und semiotische Bedeutungszuschreibungen hervorhebt. E. Frahm untersucht den Einfluss assyrischer Politik und Kultur auf die Literatur des Alten Testaments, dessen Verfasser assyrische Vorstellungen und Konzepte häufig in kritischer Brechung und Transformation aufnehmen. Dessen ungeachtet bleibe der Nachweis einer linearen Rezeption assyrischer Stoffe und Bräuche seitens der alttestamentlichen Schreiber (und damit eine Datierung der Texte) nicht selten schwierig. P. Machinist schließlich zeichnet in einer Fallstudie zur Herrschaft Manasses die hermeneutischen Prinzipien biblischer Historiographie vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse im 7. Jh. v. Chr. nach (besonders 2Kön 21; 2Chr 33).
Die Studien des vierten Hauptteils behandeln die babylonische Epoche. J. Zorn dokumentiert die Kontinuität in der materiellen Kultur in Mizpa im 6./5. Jh. v. Chr. und schließt daraus (und aus einzelnen biblischen Nachrichten), dass der Ort in der babylonischen Zeit durchgehend als zentraler Verwaltungssitz der lokalen politischen (und kultischen) Eliten und wichtiges Zentrum der exilisch-frühnachexilischen Literaturproduktion in Juda gedient habe. M. Jursa und C. Debourse analysieren spätbabylonische priesterliche Texte des 2. Jh.s v. Chr. und deren Bemühen, das eigene Selbstverständnis und die eigene Stellung in den zeitgenössischen politischen und sozialen Umbrüchen neu zu bestimmen und zu sichern. Sowohl die verwendeten literarischen Formen (narrativ-historiographische Dokumente, Ritualtexte) als auch die verhandelten Konzepte könnten als Analogien für die priesterliche Literatur des Zweiten Tempels herangezogen werden, deren Verfasser vor vergleichbaren Herausforderungen standen. E. Blum untersucht die literaturgeschichtliche Kontextualisierung des Buches Deuteronomium anhand der kompositorischen Funktion von Dtn 1–3 und der Vorstellung vom Zelt der Begegnung in den Büchern Exodus, Numeri und Deuteronomium. Den Anfang des Deuteronomiums versteht er mit Wellhausen u. a. als Eröffnung eines größeren (deuteronomistischen) Erzählzusammenhangs (Noths DtrG), in den eine Vorstufe des Buches redaktionell eingefügt wurde. Der Motivkomplex des Begegnungszeltes hingegen dokumentiere eine (proto-)pentateuchische Leseperspektive, die der Verknüpfung mit den priesterlichen Textanteilen vorausgehe. Der Abschnitt wird beschlossen durch den Beitrag von H.-J. Stipp, in dem dieser die verschiedenen Konfigurationen des Exils im Jeremiabuch literaturgeschichtlich differenziert und theologiegeschichtlich aufeinander bezieht.
Der fünfte Hauptteil beschäftigt sich mit der Perserzeit und wird durch eine Bestandsaufnahme der archäologischen Befunde von Persepolis durch P. Callieri eröffnet, in der er das ideologische Selbstverständnis der Perserkönige herausarbeitet, wie es sich in der achämenidischen Architektur und Ikonographie niederschlägt, die ihrerseits an ältere mesopotamische und ägyptische Traditionen anknüpft. A. Gianto geht vereinzelten Hinweisen in der biblischen Literatur auf das Phänomen der Zweisprachigkeit bzw. Diglossie im perserzeitlichen Juda nach (vgl. zu Gen 31,47; Jer 10,11; Neh 8,1–8; 13,23 f.). F. Giuntoli vergleicht die (spät-)perserzeitlichen Identitätsdiskurse, wie sie sich in der litertaturgeschichtlichen Entstehung des Pentateuchs niedergeschlagen haben, mit vergleichbaren Konzepten in der hellenistischen Welt. Schließlich fragt E. M. Meyers in seinem Beitrag nach den geistesgeschichtlichen und literatursoziologischen Voraussetzungen der Textproduktion in der persischen Provinz Jehud.
Der letzte Abschnitt ist der hellenistisch-römischen Epoche ge­widmet und wird durch einen Artikel von K. Berthelot eröffnet, in dem sie den Prozess der Kanonisierung der Hebräischen Bibel im Gefolge der zeitgenössischen hellenistischen Text- und Traditionspflege interpretiert und in priesterlichen Kreisen am Jerusalemer Tempel situiert. Die besondere religiöse Funktion der Tora im an-tiken Judentum setzte der Rezeption hellenistischer Praktiken jedoch ebenso Grenzen wie die Haltung einer kritischen Distanz gegenüber der hellenistischen Kultur, woraus sich die Eigenart der pluralen Text- und Überlieferungsgeschichte in den Bibelhandschriften aus Qumran erkläre. B. Schmitz analysiert den Einfluss des hellenistischen Tyrannis-Diskurses auf die Darstellung der literarischen Figur der Judit, und E. Tov stellt fest, dass die Mehrzahl der in Qumran gefundenen Bibelhandschriften (gegenwärtig) keinen spezifischen religiösen Gruppierungen im antiken Judentum zugeordnet werden können, da diese sich erst im ausgehenden 2. oder zu Beginn des 1. Jh.s v. Chr. herausgebildet hätten. Der textliche Befund spreche jedoch dafür, dass sich in späterer Zeit zwei verschiedene Trägerkreise identifizieren ließen: die Gemeinschaft von Qumran, die keine proto-masoretische Textform gebrauchte, und die Bewohner der übrigen Orte in der judäischen Wüste, in denen durchgängig der proto-masoretische Text Verwendung gefunden hat. Der Beitrag von M. Fidanzio ergänzt diesen Befund am Beispiel der Psalmenüberlieferung. Er vergleicht die Psalmenrollen aus Qumran mit denen, die außerhalb der Siedlung gefunden wurden, und betont, dass die textliche und kompositorische Eigenart von 11QPsa (und der parallelen Textzeugen 11QPsb und 4QPse) auf die lokalen Trägerkreise beschränkt bleibt und gegenüber den übrigen Textzeugen, die einen proto-masoretischen Psalter belegen, isoliert erscheint. Den Schlusspunkt bildet die Studie von H. Drawnel, der die Aufnahme und Adaption von Gen 6,1–4 (bzw. einer gemeinsamen literarischen Vorlage) im Buch der Wächter (vgl. 1Hen 6 f.) untersucht.
Der vielseitige und abwechslungsreiche Sammelband, der die Erforschung der Literaturgeschichte des Alten Testaments bündelt und konstruktiv weiterführt, wird durch eine Gesamtbibliographie sowie durch ein Stellen-, Autoren- und Namensregister be­schlossen.