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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

177–179

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Streeck, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2021. 538 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783518429686.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Der seit 2014 emeritierte frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Wolfgang Streeck, legt mit dieser engagiert geschriebenen Studie zur politischen Ökonomie einen pointierten Beitrag zur Debatte um Staatlichkeit und Überstaatlichkeit in globaler und europäischer Perspektive vor. Aus seiner EU-Skepsis macht er keinen Hehl, und Globalisierung ist für ihn vor allem die politische Ideologie des »Globalismus«. Um die neoliberale »Verwirtschaftung der Gesellschaft« zu verhindern, muss die Ökonomie sozialisiert werden, also die gesellschaftliche »Kontrolle über den Selbstlauf selbstregulierender Märkte« zu­rückgewonnen werden (9). Das geht nicht ohne eine konkrete Staatstheorie. »Kapitalismustheorie verlangt nach Staatstheorie« und die »Gestaltbarkeit« des Staates »kraft egalitärer Demokratie« ist nur gewährleistet, wenn der Staat »demokratischer Beeinflussung und Willensbildung zugänglich« ist (9). Genau aus diesem Grund ist das »neoliberale Projekt einer Ablösung der Nationalstaaten durch global governance oder gar durch Superstaatlichkeit« zurückzuweisen (11). Energisch widerspricht der Vf. allen Versuchen, den Nationalstaat »zugunsten internationaler Organisationen oder globalisierter oder regionalisierter Superstaatlichkeit« zu überwinden und eine »Experten- oder Marktherrschaft« zu errichten, die »demokratischem Einfluss entzogen« ist (11 f.). Nicht globalisierende Überstaatlichkeit, sondern die »unterschätzen Möglichkeiten kleinteilig-verteilter dezentraler Ordnungen« der Nationalstaaten (13) sind der demokratische Weg in die Zukunft.
Seine These entfaltet der Vf. nach einer ausführlichen Einleitung (Steckengeblieben: Zwischen Globalismus und Demokratie: 21–60) in sechs Kapiteln. Das erste (Kapitalistische Wirtschaft, demokratische Politik: Die doppelte Krise des Neoliberalismus: 61–145) geht kritisch auf die neoliberale Globalisierung und ihre Auswirkungen auf Demokratie, Staat und Gesellschaft ein. Mit spitzer Feder werden die nicht nur in Deutschland zu beobachten-den Tendenzen einer zivilreligiösen »Sakralisierung« Europas, die sakralisierenden Narrativkonstruktionen von Robert Menasse und Ulrike Guérot und der »Eurokitsch« der Brexit-Debatte als »Sakramentalisierung und Sentimentalisierung, ja Verkitschung ›Eurpose‹ oberhalb seiner harten neoliberalen Realität« analysiert (134–142).
Das zweite Kapitel (Staaten und Staatssysteme: Integration und Differenzierung: 147–234), dritte Kapitel (Durchbruch nach oben? Großstaaterei und ihre Grenzen: 235–329) und vierte Kapitel (Europa: Gescheiterter Superstaat, scheiterndes Imperium: 331–386) bilden den Kern des Buches. Sie bieten eine schonungslose Analyse des Scheiterns des neoliberalen Umbauversuchs des globalen und europäisch-kontinentalen Staatensystems. »Je mehr der Pluralismus der menschlichen Lebensweisen durch globale Vereinheitlichungsprozesse in Frage gestellt wird, desto schärfer tritt er in seiner Verteidigung zutage; so wird das Staatensystem eher kleinteiliger und pluralistischer als integrierter und zentralisierter.« (233)
Im fünften Kapitel (Ausweg nach unten: Kleinstaaterei und ihre Möglichkeiten: 387–505) skizziert der Vf. den von ihm favorisierten Ausweg aus dieser verfahrenen Situation. Nicht die globalisierende Zentralisierung und Überstaatlichkeit ist die Zukunft, sondern ein »Globaler Polyzentrismus« (414–430) von »Keynes-Polanyi-Staat[en]: National, souverän, demokratisch« (437–443), die nicht imperial-superstaatlich geordnet, sondern kooperativ-konföderal vernetzt sind und so eine neue, demokratisch gestaltbare internationale Ordnung bilden (490–505). Nur so kann die Souveränität der Staaten zurückgewonnen werden, ohne die es keine verantwortliche Freiheit gibt, und nur so kann die demokratische Einflussnahme auf die Gestaltung der Staaten gewährleistet werden, ohne die es keine Souveränität gibt.
Ein kurzes Resümee fasst die Quintessenz der Studie zusammen (507–511): Um die »zunehmende Desorganisation in den Krisen der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts« zu überwinden, bedarf es einer »polyzentrischen nationenbasierten Ordnung« (491). Eine »nichtimperiale Staatenordnung« ist »sowohl prinzipiell möglich als auch politisch geboten«, weil entgegen »der globalistischen Propaganda […] die Nachfrage nach souveräner Nationalstaatlichkeit ungebrochen« ist (508).
Der Vf. hat ein nachdrückliches Plädoyer für den Nationalstaat vorgelegt, der mit manchen neoliberalen Mythen und irreführenden Vereinfachungen aufräumt. Seine Argumente sind nicht historisch, sondern politisch, und sie sind mit Fakten unterlegt. Der neoliberale Kapitalismus sieht in der Globalisierung und einer technokratischen Überstaatlichkeit die Lösung der Probleme. Der Vf. sieht diese Lösung als Teil des Problems, das es demokratietheoretisch zu lösen gilt. Der souveräne nationale Kleinstaat im kooperativ-konföderalen Verbund mit anderen nationalen Kleinstaaten ist für ihn der Weg in die Zukunft.
Diese Zukunft ist schon Gegenwart – in der Schweiz. Aber dort zeigt sich auch, dass Kleinstaaten wie die Schweiz oder Belgien keineswegs homogene Gebilde sind und sich nicht mit »Nation« im Sinn von Streecks ›homogenem Nationalstaat‹ gleichsetzen lassen. Demokratische Mitgestaltung ist auch nicht nur in Kleinstaaten möglich, sondern auch in Großflächenstaaten wie den USA oder Indien, auch wenn dort ganz andere Herausforderungen an demokratische Strukturen gestellt werden. Demokratie muss differenzierter gedacht werden als das »entproletarisierte Wertesystem« (38), zu dem sie im Neoliberalismus geworden ist. So richtig es ist, daran zu erinnern, dass Demokratie zuerst und vor allem ein Regierungssystem der Gleichberechtigten und keine populistische Gleichheitsideologie ist, so wichtig ist es auch, die Vielgestaltbarkeit demokratischer Regierungssysteme zu beachten. Gerade wenn man der Kritik am politisch entkernten Bild der Demokratie als Wertesystem einer individualistischen Bürgergesellschaft zu­stimmt, weil es Tor und Tür für eine politikfreie neoliberale Marktwirtschaft oder technokratische Steuerung der Märkte öffnet, die sich demokratischer Mitwirkung entziehen, muss man doch auch auf der anderen Seite betonen, dass »die Auseinandersetzung über Wesen und Reichweite der Demokratie« sich nicht »zu einem auf intellektuelle wie moralische Exklusion zielenden Kulturkampf der ›Demokraten‹ gegen die ›Populisten‹« verkürzen lässt (41). Man muss den politischen Kern der Demokratie als egalitäres Regierungssystem auch für transnationale Staatsgebilde erneuern und sich nicht durch die übervereinfachende Alternative zwischen technokratischem Globalstaat und demokratischem Kleinstaat den Blick für diese Aufgabe verstellen lassen.