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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

175–177

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Paqué, Karl-Heinz, u. Richard Schröder

Titel/Untertitel:

Gespaltene Nation? Einspruch! 30 Jahre Deutsche Einheit.

Verlag:

Basel: NZZ Libro 2020. 289 S. m. 35 Abb. Geb. EUR 32,00. ISBN 9783907291009.

Rezensent:

Benjamin Hasselhorn

Karl-Heinz Paqué und Richard Schröder melden in diesem Buch Einspruch an bezüglich der Art und Weise, wie in Deutschland über die Deutsche Einheit und das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen gesprochen wird. Ihre Intervention richtet sich gegen die ihrer Meinung nach fatale Tendenz, in der öffentlichen Diskussion einen neuen »Opfermythos Ost« (13) zu schaffen, nach welchem die DDR von der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung in quasikolonialistischer Manier »übernommen« und ausgebeutet worden sei, woraus sich die im Vergleich zum Westen bis heute schwächere Wirtschaft des Ostens erkläre. Sie nennen diesen »Opfermythos Ost«, mit dem eine westliche Hochnäsigkeit gegenüber dem Osten Hand in Hand gehe, sogar eine »neue Dolchstoßlegende« (13), die erstens »den Fakten widerspricht« (14) und zweitens »eine Spaltung erst schafft, die es noch gar nicht gibt« (15). Die Grundthese, die die beiden Autoren dagegenstellen, lautet, dass die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte war und »dass das Zu­sam­menwachsen der Nation im Wesentlichen funktioniert« (14).
Diese Grundthese wird vor allem im ersten von zwei Hauptkapiteln entfaltet. In diesem Kapitel gibt Karl-Heinz Paqué (der das Kapitel allein verantwortet) einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte der DDR, über die wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung und über die Wirtschafts- und Gemütslage der Gegenwart in Ost und West. Der Idee von einer Zerstörung des Ostens durch den kapitalistischen Westen nach der Wiedervereinigung hält er den Hinweis entgegen, dass die DDR-Wirtschaft kaputt gewesen sei, lange bevor die Mauer fiel. Grund dafür seien die systematischen Defizite der Planwirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft, nämlich fehlende Effizienz und fehlende Innovationskraft. Daher seien auch weder die schnelle Währungsunion – die Paqué als alternativlos bezeichnet – noch die Arbeit der Treuhandanstalt für die ruinöse wirtschaftliche Lage in den 1990er Jahren verantwortlich. Trotz der massiven Deindustrialisierung des Ostens sei es inzwischen zu einem wirtschaftlichen Aufholprozess gekommen, der zwar lange noch nicht abgeschlossen sei – auch weil es nach wie vor ein Innovationsdefizit im Osten gebe –, der aber durchaus als Erfolg zu verstehen sei. Trotz zum Teil überzogener Erwartungen, die an die Wiedervereinigung geknüpft waren, und trotz einer Neigung, die Treuhandanstalt zum »Sündenbock« (109) zu machen, zeige die Angleichung zwischen Ost und West in Sachen Lebenszufriedenheit, »dass die Bevölkerung als Ganzes diese evolutorische Komplexität und Langsamkeit des Prozesses offenbar durchaus akzeptiert – und dabei keineswegs an der Deutschen Einheit verzweifelt« (110).
Das zweite Hauptkapitel verantwortet Richard Schröder. Er stellt gängige Stereotypen – von ihm »Mythen« genannt – über die ehemalige DDR vor und dekonstruiert sie. Das Kapitel ist stärker anekdotisch angelegt und handelt von der Diskussion über den »Unrechtsstaat« bis zur Frage, wieso die AfD im Osten so viel stärker ist als im Westen, eine ganze Reihe einzelner Themen ab. Was die »Unrechtsstaat«-Diskussion betrifft, so kritisiert er vor allem die »Haltung herablassender Empathie« (130), wie sie in manchen Stellungnahmen von Westdeutschen zutage trete, die die Bezeichnung »Unrechtsstaat« für die DDR als Gefühle verletzend ablehnen. Selbstverständlich, so Schröder, sei das SED-Regime nach allen gängigen, von Gustav Radbruch über Fritz Bauer bis Horst Sendler entfalteten Kriterien, ein Unrechtsstaat gewesen. Auch im Hinblick auf die Unterschiede in den politischen Einstellungen wendet sich Schröder engagiert gegen westliche »Ostethnologie« (Gerhard Schmidtchen). Als Erklärung für die im Vergleich zum Westen drei Mal höhere Rate rechtsextremistischer Straftaten führt er die be­reits in der DDR starke Skinhead-Szene, »postrevolutionäre Desorientierungen« (215) und die im Vergleich zum Westen geringeren persönlichen Erfahrungen mit Ausländern an. Dem Vorwurf, die Ostdeutschen seien tendenziell antidemokratisch, da die AfD im Osten etwa doppelt so viele Stimmen erhalte wie im Wes­ten, hält Schröder entgegen, dass die Mitglieder und Funktionäre rechter Parteien mehrheitlich aus dem Westen stammten; er er- klärt es zudem für prinzipiell sinnvoll im Sinne der Demokratie, wenn in nennenswerter Weise vorhandene politische Überzeugungen auch eine parlamentarische Repräsentation bekämen. Der we­sentliche Unterschied liege nicht in autoritären Denkmustern oder Ähnlichem, sondern in der stärkeren Akzeptanz repräsentativer Demo kratie im Westen als im Osten, wo die Forderung nach direkter Demokratie stärker sei.
Im Schlusskapitel führen Paqué und Schröder diesen Unterschied zwischen Ost und West vor allem auf die Deindustrialisierung des Ostens in den 1990er Jahren zurück und attestieren der Bevölkerung Ostdeutschlands im Sinne von David Goodharts Un­terscheidung zwischen »somewheres« und »anywheres« eine ähnliche Mentalität wie den Bewohnern strukturschwacher Regionen in anderen europäischen Staaten oder den USA. Das erscheint im Wesentlichen überzeugend, solange diese Erklärung nicht mo­nokausal verengt wird. Ganz in diesem Sinne schließen sie ihr Buch mit der Einladung, die Dinge anders zu sehen, aber auch mit dem Wunsch, auf polarisierende Narrative zu verzichten und stattdessen auf integrierende zurückzugreifen: »Wir möchten niemandem ausreden, die Realität anders zu sehen und zu deuten, als wir dies tun. Empfehlen würden wir allerdings, auf jene Mythen zu verzichten, die Deutschland in Opfer und Täter aufteilen. Angemessener erscheint das Bild einer Schicksalsgemeinschaft, die in historisch vertrackter Lage versucht hat, das Beste daraus zu machen.« (239)