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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

134–136

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Wünsch, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Hans Küng in der Theologie der Religionen. Von der offenbarten dogmatischen Wahrheit zum interreligiösen Synkretismus. M. e. Geleitwort v. E. Jurcan.

Verlag:

Wachtendonk: Edition Hagia Sophia 2020. 343 S. m. Abb. Kart. EUR 22,50. ISBN 9783963210075.

Rezensent:

Gerd Neuhaus

In der äußeren Wahrnehmung des theologischen Werkes von Hans Küng ergeben sich zwei Phasen: eine erste vor und eine zweite nach dem Entzug seiner Lehrerlaubnis im Jahr 1979. Denn während die erste noch von dem Anspruch geprägt war, mit dem Standbein im Inneren des Glaubens seiner Kirche zu stehen und diesen nach außen zu übersetzen, wechselt Küng später in die religionswissenschaftliche Außenperspektive, um schließlich mit seinem »Projekt Weltethos« eine gemeinsame Schnittmenge ethischer Überzeugungen der Weltreligionen festzustellen. Die Studie von Wolfgang Wünsch zeigt demgegenüber, dass es eine tiefere Kontinuität in der theologischen Entwicklung Küngs gibt. In der Tat finden sich die entsprechenden Ansätze zu derjenigen Theologie der Religionen, von der vorliegendes Werk handelt, bereits in Küngs frühen Arbeiten. Dabei folgt W. nicht nur derjenigen autobiographischen Rekonstruktion, die Küng selbst von seiner eigenen Werkgeschichte gibt, sondern er zeichnet den genannten Prozess in einer gründlichen Auseinandersetzung mit dessen zahlreichen Publikationen nach.
Die entscheidende Weichenstellung findet er in Küngs seinerzeit viel beachteter Auseinandersetzung mit Karl Barths Rechtfertigungslehre. Denn hier arbeite dieser anerkennend das Schriftprinzip in einer Weise heraus, die einerseits auf eine Entmächtigung der kirchlichen Tradition hinauslaufe, andererseits in der Wahrnehmung der Schrift sich dem damaligen Zeitgeist unterwerfe. Von hier aus wird auch der kritische Unterton verständlich, der sich im Untertitel des vorliegenden Werkes ankündigt: Es gibt für Küng keine »offenbarte dogmatische Wahrheit«, sondern das kirchliche Dogma hat sich vor der Offenbarung zu verantworten. Offenbarung ist aber für Küng – wie W. zutreffend herausstellt – primär im Medium der »Schrift« gegeben, hier aber insbesondere in den ältesten Texten des Neuen Testaments. Damit trifft Küng eine methodische Vorentscheidung, die prägend für sein gesamtes Werk ist: Alles, was sich nicht aus den ältesten Schichten der jesuanischen Überlieferung ableiten lässt, kann nicht mit dem Anspruch auf Offenbarung auftreten, und in diesem Sinne hierarchisiert er auch innerkanonisch die neutestamentlichen Texte. Demgegenüber formuliert W. einen Einwand, den seinerzeit schon Wolfhart Pannenberg gegenüber Barth geäußert hat: dass in dessen Installation des Schriftprinzips unbemerkt der historisch situierte Interpret sich zum Maß dessen mache, was er sich von der Schrift sagen lässt. Entsprechend macht W. auf das aufmerksam, was Benedikt XVI./Joseph Ratzinger »kanonische Exe­ gese« nennt: dass nämlich die Kanonbildung des Neuen Testaments von der Überlieferung eines Glaubens Zeugnis ablegt, welcher der Schriftwerdung der Offenbarung ermöglichend vorausliegt. So lautet der immer wiederkehrende Haupteinwand, dass Küng nicht zwischen »apostolischer« und »nachapostolischer« Tradition unterscheide.
Aus dem Nachweis, dass aus der biographischen und historischen Situiertheit Küngs sich das Kriterium dessen ergibt, was er als »schriftgemäß« akzeptiert, folgt ein weiterer Einwand. Küng hat nämlich in seinen großen Veröffentlichungen über die Weltreligionen zwischen deren Kern und historisch variablen Paradigmen unterschieden, in denen dieser Kern seine Überlieferung erfährt. Mit dem Begriff des Paradigmas bezieht er sich auf historisch veränderbare Grundüberzeugungen und Einstellungen, in welche die Menschen einer Epoche so fugenlos eingelassen sind wie der Fisch in das ihn umschließende Wasser. Und so wie ein Fisch – wäre er mit Bewusstsein begabt – erst im Verlassen seiner ursprünglichen Umgebung begreift, was Wasser ist, erkennt der Mensch das ihn umgebende Paradigma in der Regel erst dann, wenn es zerbricht. Wendet man diesen paradigmenanalytischen Ansatz aber auf Küng selbst an, dann muss man einwenden, dass auch die paradigmenanalytische Freilegung eines biblischen oder jesuanischen Kerns sich im Rahmen eines Paradigmas aufhält, das der jeweilige Analytiker an sich selbst gar nicht bemerkt.
Daraus ergibt sich – wie W. zeigt – das Bild eines sanften Jesus, der aus der Fühlung einer ultimativen Wirklichkeit heraus uns ermuntert, die Welt und das Leben in einer Haltung begründeten Grundvertrauens anzunehmen und im Namen dieses Ultimativen sich nicht denjenigen innerweltlichen Instanzen zu unterwerfen, die sich an die Stelle dieser letzten Wirklichkeit setzen. Wenn so die kirchliche Tradition paradigmentheoretisch entmächtigt wird, dann ist Jesus nicht mehr die Inkarnation des göttlichen Logos, nicht mehr Gottes Sohn und auch nicht wahrer Mensch und wahrer Gott. Diese Wortbildungen wurzeln vielmehr in einem überlebten Paradigma. Stattdessen wird Jesus auf diese Weise zum »Stellvertreter«, »Anwalt« oder »Sachwalter« Gottes, um nur einige Termini aus Küngs Werk zu nennen. Wer die Konturen des Christlichen solcherart zum Verschwinden bringt – so W. –, hat es dann leicht, eine innere Nähe aller Religionen zu konstatieren, welche deren jeweilige Differenzen, die doch eine Herausforderung zum echten Dialog sein sollten, nicht mehr gebührend ernst nimmt.
Andererseits bleibt die Frage nach einem Kriterium offen, welches es erlaubt, eine legitime kirchliche Tradition von etwaigen illegitimen Traditionen zu unterscheiden. Auch wenn man Küngs Antwort zu Recht zurückweist, ist die Frage damit noch nicht beantwortet. Insofern hätte der vorliegenden Studie bei aller legitimen Kritik ein wenig Demut vor Küngs theologischer Leistung gut zu Gesicht gestanden. Hat er wirklich wichtige Texte der Heiligen Schrift nicht gelesen oder gar nicht verstanden? Fehlt es ihm wirklich an Kenntnis der eigenen Religion? In solchen Unterstellungen wird ein Paternalismus im Umgang mit Küngs Werk sichtbar, der sich von den überheblichen Gebärden nicht unterscheidet, mit denen dieser mit seinen Kritikern umging. Und man fühlt sich an die Überheblichkeit erinnert, mit der seinerzeit Bundeskanzler Schröder von »diesem Professor aus Heidelberg« sprach und Paul Kirchhof meinte, wenn wir immer wieder von »dem Tübinger Professor« lesen.
Vor allem darf man eines nicht vergessen: Bei aller berechtigten Kritik an Hans Küng hat dieser vielen heutigen Gläubigen und auch vielen Theologen, die ihre intellektuelle Sozialisation im zeitlichen und räumlichen Umfeld der 68er-Bewegung erfahren haben, den Weg zu einem intellektuell verantwortbaren Verständnis ihres Glaubens ermöglicht. So darf man vielleicht heute schon sagen: Hans Küng war ein Theologe des Übergangs, den man gerade dadurch ehrt, dass man die von ihm formulierten Impulse kritisch aufgreift. Allerdings dürfte in der Geschichte der orthodoxen theologischen Fakultät an der Universität von Alba Julia (Karlsburg) in Rumänien die Auseinandersetzung mit der westlichen 68er-Bewegung nicht diejenige Rolle gespielt haben, die für eine stärker differenzierende Würdigung von Küngs theologischer Arbeit geboten wäre. Denn dort wurde die vorliegende Studie eines deutschen evangelischen Theologen, der als Dechant im Kirchenbezirk Mühlbach in Siebenbürgen/Rumänien heimisch geworden ist, als Dissertation angenommen. Küng hätte wahrscheinlich gesagt: Die orthodoxen Kirchen und ihre Theologie leben in einem anderen Paradigma.