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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

132–134

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hammes, Verena

Titel/Untertitel:

Erinnerung gestalten. Zur Etablierung einer ökumenischen Gedächtniskultur am Beispiel der Reformationsmemoria 1517–2017.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius Verlag 2019. 624 S. = Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, 81. Kart. EUR 39,90. ISBN 9783897108257.

Rezensent:

Martin Bräuer

Verena Hammes geht in ihrer im Wintersemester 2018/19 an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster angenommenen und 2019, zwei Jahre nach dem Reformationsjubiläum veröffentlichten Dissertation der Frage nach, ob es angesichts der gewachsenen ökumenischen Verständigung in Deutschland im 500. Jahr der Erinnerung an die Reformation gelungen ist, konfessionell geprägte und einander entgegenstehende Erinnerungstraditionen aufzubrechen und somit zu einer Etablierung einer ökumenischen Ge­dächtniskultur in Bezug auf die Reformationsmemoria beizutragen. Sie legt dazu einen umfangreichen Band vor, der schon jetzt als Kompendium der Reformationsmemoria von 2017 gelten kann. Wie aber ist der Prozess von »Erinnerung gestalten«? Wie entsteht eine Erinnerungskultur?
H. nähert sich dieser Frage mit einer methodologischen Refle-xion über den komplexen Vorgang des »Erinnerns« selbst, das ja immer auch »Vergegenwärtigung« bedeutet und somit auch im­mer interessengeleitet ist, im 2. Kapitel, welches mit »Gedächtniskultur – eine erste Annäherung« (38–94) überschrieben ist. Hier werden zunächst verschiedene kulturwissenschaftliche Konzepte wie »Das kollektive Gedächtnis« (43 ff.), »Das kulturelle Gedächtnis« und schließlich noch »Das historische Gedächtnis« vorgestellt. Weiter werden Orte des Erinnerns sowie der Platz und die Funktionsweise des Gedächtnisses (und des Vergessens) generell und in der Theologie im Besonderen bedacht. Es wird dadurch noch einmal deutlich, wie sehr Judentum und Christentum Erinnerungsreligionen sind. Schließlich werden diese kulturwissenschaftlichen Konzepte auf das Reformationsjubiläum übertragen und festgestellt, dass sich die Zielrichtung der Gedächtnis-Arbeit im evangelisch-katholischen Kontext spiegelt in der Überschrift der gemeinsamen Schrift zum Reformationsjubiläum: »Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen« (87).
Das dritte umfangreiche Kapitel (95–234) widmet sich einem Rückblick auf die vergangenen Reformationsjubiläen sowie dem Gedenken weiterer reformationsgeschichtlich relevanter Ereignisse und Persönlichkeiten. H. kommt hier zu dem Ergebnis, dass es bei diesen Feiern in allererster Linie um selbstvergewissernde »Identitätsbildung« – und damit um gegenseitige Abgrenzung – gegangen sei (95).
Im 4. Kapitel wendet sich H. den Gesprächspartnern für das Jubiläumsjahr 2017 zu – sie schaut auf den interreligiösen Kontext ebenso wie auf die politischen und touristischen Aspekte des Jubiläumsjahres und einzelne Projekte.
Im 5. Kapitel geht es um »Legendenbildung: Initiativen in der ökumenischen Kritik«. H. wendet sich hier der Fülle der einzelnen Verlautbarungen und Projekte des Jahres 2017 und der Jahre zuvor zu. Es geht in diesem Kapitel um die Vorbereitung des Jubiläumsjahres 2017 z. B. durch die Gestaltung einzelner Themenjahre durch die EKD, den in dieser Zeit entstandenen Texten wie z. B. der von der EKD herausgegebenen Schrift »Rechtfertigung und Freiheit« und die Gremienbesetzung, die diese Ereignisse vorbereiten. Dieses Kapitel schließt mit der Eröffnung und dem Abschluss des Jubiläumsjahres und stellt sich am Schluss der Frage nach der Legendenbildung und ihrer Relativierung.
Im spannenden Kapitel 6 geht es um die Frage der Lerngeschichte und die ökumenischen Erträge. H. zeichnet die konfessionellen wie interkonfessionellen Bemühungen vornehmlich in Deutschland nach, jenseits der fünfhundertjährigen Trennungsgeschichte das Verbindende der beiden Konfessionen zu entdecken, zu entfalten und zu feiern. Dabei prüft sie alle zur Verfügung stehenden ökumenischen oder konfessionell gebundenen Texte, wozu auch Texte aus der Orthodoxie und den Freikirchen gehören. Sie betrachtet alle relevanten Texte wie »Vom Konflikt zur Gemeinschaft«, wobei sie hier den Text und die auf diesem Text basierende Liturgie bearbeitet, dann »Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen« oder »1517–2017. Ökumenische Perspektiven«. Sie stellt diese Texte kurz dar und reflektiert und interpretiert sie, um schließlich ein Fazit im Blick auf die perspektivisch ökumenische Bedeutsamkeit der jeweiligen Veröffentlichung zu ziehen. Insgesamt hält H. fest: »Das Reformationsgedenken 2017 hatte […] bemerkenswerte Lerngeschichten, die sich im ökumenischen Bereich […] kristallisierten. Grundbedingung war dabei stets die Versöhnung und die Bereitschaft, die Verletzungen der jeweiligen Reformationsdeutungen miteinander zu betrachten und die Geschichte gemeinsam zu erzählen […] Konfessionelle Zugänge zur Reformationsdeutung wurden aufgebrochen, Identitätsbildung, Legitimation und Legendenbildung im Miteinander und nicht im Gegeneinander ausgeführt« (490 f.). Aber die »Kraft der Versöhnung wird sich noch beweisen müssen, auch in der Frage, wie mit den Themen umgegangen wird, die weiterhin eine Einheit verhindern« (490).
Schließlich erfolgt eine Rückbesinnung auf weitere Veranstaltungen und vor allem, wie der Begriff »Christusfest« mit Inhalt gefüllt und somit zu einer theologischen Verortung der Erinnerungskultur des Reformationsjahres 2017 wurde. Eine besondere Würdigung erfährt der am 11. März 2017 gefeierte Versöhnungsgottesdienst in der Michaeliskirche in Hildesheim. Insgesamt kommt H. zu dem Ergebnis, dass die Fokussierung des Erinnerungsgeschehens auf Christus einen ökumenischen Zugang zu diesem konfessionell geprägten und belasteten Jubiläum ermöglicht habe.
Wie geht es weiter? Waren die Bemühungen, aus der Erinnerung an das Symboldatum 1517 ökumenisch Gewinn zu ziehen, vergeblich? H. verneint das und plädiert »für die Etablierung einer ökumenischen Gedächtniskultur« (537) in multikonfessioneller Perspektive und mit dem Ziel, »eine Heilung der Erinnerung herbeizuführen« (541) – durch gemeinsame Aufarbeitung der Verletzungen, gegenseitige Bitte um Vergebung und sichtbare Versöhnung im Angesicht Gottes. Das Werk H.’ leistet einen wichtigen Beitrag auf diesem Weg, indem es mit stupender Detailkenntnis und großem Fleiß alle relevanten Texte bearbeitet und analysiert, und kann nicht zuletzt deshalb als ein grundlegendes Kompendium des Reformationsjahres 2017 bezeichnet werden. Dadurch, dass die Gliederung des Buches auf den Dimensionen der historischen Erinnerung basiert, wurde nicht nur dokumentarisch, sondern immer auch reflexiv auf das Reformationsjubiläum geschaut. Ihr Werk setzt Standards, an denen man in Zukunft nicht vorbeikommen wird.