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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

128–130

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bracht, Katharina, u. Thomas Söding [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Diaspora und Sendung. Erfahrungen und Auftrag christlicher Kirchen im pluralen Deutschland. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 368 S. = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 134. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374068418.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Unter Federführung der Jenaer Kirchenhistorikerin Katharina Bracht verfasste eine Arbeitsgruppe im Rahmen eines Studienprozesses des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, eines Organs der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), den im ersten Teil des Bandes vorliegenden Text (23–83). »Diaspora« und »Sendung« werden als theologische Schlüsselbegriffe verstanden, die dazu dienen, die gegenwärtige Situation der Kirchen in Deutschland zu deuten und Konsequenzen für ihren Auftrag zu ziehen. Die in der ACK verbundenen Kirchen, von denen sich neun der 17 Vollmitglieder vorstellen, befinden sich trotz erheblicher Unterschiede hinsichtlich ihrer Beziehung zur »Welt« in der Dias-pora. Letztere ist durch die Begriffspaare Fremdheit/Heimat so-wie Minderheit/Mehrheit charakterisiert. Dabei ist der qualitative Aspekt wichtiger als der quantitative. Die gemeinsame Diasporaexistenz relativiert die Bedeutung von Statistiken und damit verbundenen Machtpositionen. Der Begriff »Sendung« verweist auf den ebenfalls allen Kirchen gemeinsamen Auftrag, der Welt mit Wort und Tat das Evangelium zu bezeugen. Das Motiv der Sendung hilft, Diaspora nicht als Horizontverengung misszuverstehen, sondern den Auftrag in der Perspektive der Hoffnung anzunehmen. Dazu gehört der Beitrag zur Gestaltung der Welt, aber auch die Aufgabe, spirituelle Heimat zu bieten.
Im zweiten, umfangreicheren Teil (91–359) werden die im Studienprozess gehaltenen Vorträge dokumentiert. Andreas Krebs informiert über den alt-katholischen Umgang mit der Diasporasitua-tion, Hacik Gazer über die armenische Kirche in Deutschland, Cars-ten Claußen über die baptistische und Ulrike Schuler über die evangelisch-methodistische Perspektive. In manchen Kirchen, wie auch bei den von Andrea Lange vertretenen Mennoniten, gehört der Begriff »Diaspora« nicht zum Selbstverständnis der eigenen Glaubensgemeinschaft. Sie akzeptieren aber die nicht durch konfessionelle Abgrenzung geprägte Interpretation. Die orthodoxe Theologin Yauheniya Danilowich deutet Diaspora und Sendung unter Bezug auf Joh 17,11–18 als Existenz »In der Welt, nicht von der Welt«. Die Verbindung der Gemeinden mit den nationalen Mutterkirchen stellt ein besonderes Problem orthodoxer Diaspora in Deutschland dar, zu dessen Lösung die ACK wenig beitragen kann. Anschaulich und konkret schildert Georges Tamer die Probleme einer orthodoxen Diasporagemeinde am Beispiel der rum.-ortho-doxen (d. h. aus der Türkei stammenden orthodoxen) Kirchengemeinde St. Michael in Nürnberg. Er zeigt, wie schwierig es ist, in der Fremde Heimat, Integration und Identität zu finden. Die Erfurter katholische Dogmatikerin Julia Knop verweist auf die großen regionalen Unterschiede in der Diasporasituation der deutschen Diözesen, erinnert aber auch daran, dass Karl Rahner die Diaspora bereits 1959 als »heilsgeschichtliches Muss« erklärte. Er sah in der Blütezeit der Volkskirche, dass eine Entwicklung vom Nachwuchs- zum Wahlchristentum notwendig ist. Diesen qualitativen Aspekt des Diasporabegriffs bringt auch Knops Kollegin Dorothea Sattler zur Geltung. Für die von Werner Klän vertretene Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche gehört die konfessionelle Diaspora seit ihren Anfängen im 19. Jh. zum Signum ihrer Existenz. Durch die weitgehende Entkirchlichung der Gesellschaft befindet sie sich zudem in einer säkularen, also doppelten Diaspora. Diese Situation erhöht den Plausibilisierungsbedarf, besonders unter konfessionellem Aspekt. Damit rückt ein praktisch-theologisch wichtiger Aspekt in den Blick: Die Diasporasituation verlangt von den Ge­meindegliedern die Fähigkeit, ihre Zugehörigkeit zu einer be­stimmten Glaubensgemeinschaft für sich selbst und für andere zu begründen. »Außerdem erfordert die Diaspora ein größeres Engagement an Zeit und Geld« (184). Notwendig ist somit eine stärkere kirchliche Identifikation als die in den meisten volkskirchlichen Gemeinden vorhandene.
Der Benediktinerabt Marianus Bieber deutet das Mönchtum als »innerkirchliche Diaspora«, die einerseits durch das Motiv der Weltflucht, andererseits durch die intentionale Zuwendung zur Welt bestimmt ist, die sich im Lauf der Geschichte für die Mission öffnete. Das Verhältnis von Kirche und Welt ist auch Thema der folgenden bibelwissenschaftlichen, kirchenhistorischen und systematisch-theologischen Beiträge. Barbara Schmitz erklärt, wie die im 6. Jh. v. Chr. aus Juda Deportierten in der Fremde Identität suchten und etwas Neues entstand. Martina Böhm stellt Diaspora als literarisch fixierten Begriff und historisches Phänomen im helle-nistischen Judentum dar. Der Mitherausgeber Thomas Söding bringt die Perspektive des 1. Petrusbriefes und damit den eschatologischen Horizont ein, der die Diasporasituation von der Erfahrung des Leidens und der Hoffnung her beleuchtet. Die Mitherausgeberin Katharina Bracht informiert materialreich über Dias-pora in der Alten Kirche. Typisch ist der Diognetbrief, der einerseits eine Distanz zur Welt, andererseits die positive Funktion für die Welt betont. Assaad Elias Kattan bringt den Brief Paul von Antiochias an einen muslimischen Freund (Anfang 13. Jh.) als Beispiel dafür, wie ein melkitischer Bischof dem vorrückenden Islam mit dem Universalitätsanspruch des Christentums begegnete.
Drei systematisch-theologische Beiträge schließen den inhaltsreichen Band ab, davon zwei aus der Sicht des landeskirchlichen Protestantismus. Bernd Oberdorfer beschreibt Diaspora als Chance und Gefahr und schildert aus eigener Erfahrung in Bayern, wie das Gewicht sich von der konfessionellen Diaspora zur Situation der Gemeinden »irgendwo zwischen Volkskirche und Diaspora« verschob. Friederike Nüssel bietet eine ekklesiologische Interpretation der Diasporaexistenz angesichts der Fremdheitserfahrung der Glaubenden in der säkularen Gesellschaft, aber auch der Tatsache, dass die aktiven Gemeindeglieder eine Minderheit gegenüber den Kirchenmitgliedern bilden, die sich kaum oder gar nicht am kirchlichen Leben beteiligen. Dieses Problem hat auch Dorothea Sattler aus katholischer Sicht im Blick. Insgesamt relativiert sich die Be­deutung der konfessionellen Diaspora gegenüber dem Sendungsauftrag der Kirchen, in denen die Glaubenden als Minderheit inmitten der säkularen Gesellschaft leben. Damit ergeben sich dringende praktisch-theologische Aufgaben, die in dieser Studie und den ihr zugrundeliegenden Arbeiten nicht verhandelt werden konnten. Die akademische Praktische Theologie ist in diesem Buch nicht vertreten und ignoriert bisher, von Ausnahmen abgesehen, das Diasporathema. Seine Aktualität zeigt sich u. a. daran, dass die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ebenfalls einen Studienprozess zur Theologie der Diaspora durchführte (vgl. ThLZ 145 [2020], 879 f.). In beiden Arbeiten wird die besondere Situation in den ostdeutschen Landeskirchen berücksichtigt. Welche kybernetischen Konsequenzen notwendig sind, wenn eine Kirche von 80 % auf 15 % der Bevölkerung schrumpft – bei erheblichen regionalen Unterschieden –, konnte nicht Thema einer ACK-Studie sein. Für die meisten ACK-Mitgliedskirchen ist Diaspora der Normalzustand. Das Ergebnis ihres Studienprozesses regt dazu an, darüber nachzudenken, inwiefern das auch für die Landeskirchen der EKD gilt. Dabei sind der theologische und der soziologische Aspekt zu unterscheiden sowie zu verbinden. Die Studien der ACK und der GEKE können dafür hilfreich sein.