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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

126–128

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Konrad

Titel/Untertitel:

Das Confiteor. Studien zu seiner Gestalt und Funktion im Gottesdienst sowie im Leben der Kirche.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 410 S. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783374066766.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Die 2020 von der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau angenommene und für den Druck überarbeitete und erweiterte Habilitationsschrift ist viel mehr als eine akademische Qualifikationsarbeit. Sie dokumentiert die jahrzehntelange Auseinandersetzung des Autors mit dem gottesdienstlichen Sündenbekenntnis (siehe Vorwort) und widerspiegelt genuine pastoraltheologische und liturgische Praxis und Reflexion. Konrad Müller, Leiter des Gottesdienst-Instituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, vereint in seiner Person die Erfahrungen des pfarramtlich-kirchlichen Dienstes und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit homiletischen (»Wort und Wirkung. Zur Grundlegung der Predigt«; Promotion 2014) und liturgischen Fragestellungen. Letztere bündeln sich im Confiteor wie in einem Brennglas, was in der vorliegenden Publikation unübersehbar zur Geltung kommt.
Die Forschungsfrage stellt sich diesem liturgischen Element der Eröffnungssequenz des Gottesdienstes und will eine Klärung finden, was denn dieses Confiteor eigentlich genau ist und was es sein könnte. Ist es ein konkretes Sündenbekenntnis oder ein allgemeines Schuldbekenntnis? Und in welchem Verhältnis steht es zur Einzelbeichte und zur Offenen Schuld? Wird mit einem Gnadenzuspruch Vergebung realisiert? Erfolgt hier eine Verkündigung? Und wie verhält sich das Confiteor zu Kyrie und Gloria? Gehört es schon zum Gottesdienst oder ist es als Rüstgebet eine Vorbereitung des Liturgen bzw. der Gemeinde? Ist es eine Abholung aus der Situation oder ein Akt der Tauferinnerung?
Das Confiteor in seinen vielfältigen Ausgestaltungen – so die zentrale These der Untersuchung – lässt sich adäquat nur als Teil der jeweils korrelierenden kirchlichen Lebensform verstehen. Unter Lebensform versteht M. »jene Gemeinschaften, die durch bestimmte Sprach- und Wertekonventionen verbunden sind«(336). Die Lebensform beinhaltet dabei nicht nur ein bestimm-tes Verständnis von Schuld und Sünde, sondern u. a. auch eine bestimmte Sichtweise des Verhältnisses zwischen Gott und Welt und zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft sowie rituelle Konventionen, in welchen sich diese Vorstellungen kondensieren. Man könnte das gut verbinden mit dem u. a. von Bernd Wannenwetsch aufgezeigten Verständnis des Gottesdienstes als einer verdichteten Lebensform, nämlich als einer »Grammatik« der christ-lichen Lebensgestaltung (Gottesdienst als Lebensform, Stuttgart 1997).
Dieses lebensform-bezogene Confiteorverständnis plausibilisiert M. in mehreren verwobenen Reflexionskreisen. Ausgangspunkt bilden die Confiteor-Varianten der VELKD-Agende von 1955 (42–103). Sowohl die Sprechaktanalyse als auch die Interpretationen verweisen auf die Uneindeutigkeit des Confiteor-Textes. Dieser lässt sich als Ergebnis kirchlicher Ausdifferenzierungsprozesse verstehen. Entsprechend wird die geschichtliche Entwicklung des Confiteors in seinen unterschiedlichen Varianten und konfessionellen Ausprägungen instruktiv nachgezeichnet (117–233). Weshalb die Darstellung der Forschungsgeschichte zum Confiteor (104–116) zwischen diesen beiden Teilen erfolgt, erschließt sich vom Gedankengang her nicht wirklich. Sie hätte wohl in der eröffnenden Hinführung zum Confiteor (12–41) besser gepasst.
Eine weitere gedankliche Ein- und Umkreisung der Thematik erfolgt durch die Auseinandersetzung mit den Confiteor-Texten und den entsprechenden Kontexten von Wilhelm Löhe, Julius Smend, Dieter Trautwein, Friedrich Karl Barth, Christhard Mahrenholz, Hans-Joachim Thilo sowie Andreas Döber (234–307). Die durchwegs erhellenden Analysen zeigen besonders anschaulich die Korrelationen von Confiteor und kirchlich-gesellschaftlichen Lebens- und Glaubensformen.
Die in den sprachlichen und historischen Analysen festgestellte semantische, liturgiedramaturgische und ekklesiologische Bedeutungsvielfalt des Confiteors wird in einem systematisierenden Durchgang gesichtet und geordnet (308–384). M. entwickelt dabei unter Wahrnehmung von »Familienähnlichkeiten« eine »offene Morphologie« des Confiteors (329–334). Dieser Ansatz vermag gerade deshalb zu überzeugen, weil M. der Versuchung widersteht, ein externes Kategoriensystem zur Systematisierung beizuziehen. Als Hauptertrag der Studie entfaltet sich eine offen gehaltene Typologie, in welcher jeweils eine Confiteor-»Familie« mit der entsprechenden Lebensform in Korrelation gebracht wird (335–347): Das »vorstellungsgeleitete Confiteor« korreliert mit einer kirchlichen Lebensform der »Anderweltlichkeit«, das »vermittlungsorientierte Confiteor« mit der subjektiven Erfahrung, die »Dokumentarische Revue« (in der Tradition von Trautwein) mit dem Engagement zur Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie und die »geordnete Erinnerung« eines seelsorgerlich-therapeutischen Confiteors (wie etwa bei Thilo) mit der Beheimatung im Vertrauten. Eine Sonderstellung nimmt das Evangelische Gottesdienstbuch ein. Der Verzicht auf eine inhaltlich-stimmige Festlegung und die Orientierung an einer Grundstruktur führen dazu, dass Confiteor-Varianten unterschiedlichen Typs angeboten werden, ohne dass die jeweilige Lebensform-Orientierung mitbedacht wird. Das Gottesdienstbuch steht damit im Dienst liturgischer Kommunikation und orientiert sich an der konkreten Ortsgemeinde als der tragenden Lebensform des jeweiligen Gottesdienstes.
Im Ausblick (385–395) bündelt M. seine Überlegungen. Auch wenn sich kein einheitliches Verständnis für das Confiteor etablieren lässt, will M. nicht darauf verzichten. Denn das Confiteor bietet »das Potential einer liturgisch geregelten Artikulation von Sünde und Schuld« (389), indem es das Sein des Menschen coram deo zur Sprache bringt und indem es vor allem auf die Begrenzung des Menschen verweist, »dass er aus eigener Kraft nicht selig werden kann« (389), dass also »der Mensch ein Angewiesener, ein Begrenzter ist und bleibt« (391). Im Confiteor wird in verdichteter Form das Selbstverständnis und die Identität der Kirche als einer vom Evangelium bestimmten Lebensform erkennbar.
M.s Studie ist eine wertvolle Ergänzung zu der vor wenigen Jahren publizierten Habilitation von Luca Baschera (Hinkehr zu Gott. »Buße« im evangelisch-reformierten Gottesdienst, Göttingen 2017), welche von M. übrigens konstruktiv rezipiert wird (114–115.230–233). Während Baschera liturgietheologisch argumentiert und die normative Bedeutung der Umkehrliturgie als dem metanoetischen Kern des Gottesdienstes etabliert, verfährt M. sprachphilosophisch und historisch und versucht, induktiv Kategorien zu entwickeln, um die vielfältigen Confiteor-Varianten aus sich selbst heraus und in ihrem lebensweltlichen Kontext verständlich zu machen. Bei aller Unterschiedlichkeit ist beiden Ansätzen gemeinsam, dass sie den Eigenwert der Kirche und ihres Gottesdienstes auch gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends hervorheben und dass daher die Kirche und ihre Verantwortlichen nicht der Frage ausweichen können, wie der anthropologisch existentielle Zusammenhang von Sünde und Gnade in der Liturgie gestaltet wird. Baschera gewinnt eine weiterführende und motivierende Perspektive durch die pneumatologisch-doxologische Grundierung des Confiteors, M. durch die Einbettung in die ekklesiale Lebensform.
Zwei kleine formale Anmerkungen: Die fehlende Nummerierung der Hauptüberschriften erschwert die schnelle Orientierung im Gesamtwerk. Und: Gerade bei der gewählten Form der Darstellung mit ineinander verzahnten kreisförmigen Diskursen wären ein Namen- und Sachregister hilfreich gewesen, um bestimmte Aspekte oder Personen quer durch die Untersuchung nachverfolgen zu können. Diese kleinen Mängel vermögen aber den Wert der Studie nicht zu schmälern. Vielmehr zeigt sich, wie gewinnbringend es ist, sich detailliert mit liturgischen Handlungsvollzügen auseinanderzusetzen.