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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

121–123

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Braune-Krickau, Tobias, u. Christoph Galle [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Predigt und Politik. Zur Kulturgeschichte der Predigt von Karl dem Großen bis zur Gegenwart.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2021. 368 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 50,00. ISBN 9783847113096.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die beiden Herausgeber vermerken in ihrer Einleitung, dass seit Werner Schütz’ »Geschichte der christlichen Predigt« von 1972 in der evangelischen Theologie »kaum noch größere Gesamtdarstellungen« der Predigtgeschichte versucht wurden und dass auch in den jüngeren homiletischen Lehrbüchern die Geschichte der Disziplin Homiletik im Vergleich zur Predigtgeschichte deutlich dominiert (11). Diesem Mangel wollen die Herausgeber, Autorinnen und Autoren abhelfen, indem »der bewusst weit gefasste Begriff der ›Kulturgeschichte‹« in den Mittelpunkt der Predigtgeschichte gestellt wird (13).
Das Buch füllt eine in mehrfacher Hinsicht bestehende Forschungslücke. Zum einen ist die historische Dimension praktisch-theologischer Forschung in letzter Zeit nahezu völlig vom empirischen Zugriff verdrängt worden (so auch treffend Ruth Conrad, 238). Zum anderen zeigt dieser Sammelband, wie fruchtbar die Zusammenarbeit der Homiletik mit der Kirchengeschichte ist (und vice versa). Schließlich wird drittens der Nutzen eines profangeschichtlichen und politikgeschichtlichen Zugangs zur Homiletik deutlich.
Insgesamt machen die vorliegenden Beiträge deutlich, wie gut die Homiletik beraten ist, wenn sie nicht nur auf ihre klassischen Bezugsdisziplinen Psychologie, Soziologie und Rhetorik zurückgreift. Bleibt deren Notwendigkeit unbestritten, so ist die Renaissance neuer Zugänge auch für die praktischen Disziplinen der Theologie begrüßenswert, zumal dann, wenn die historische Arbeit unter neuartigen Perspektiven wie der literatur-, kultur- und politikwissenschaftlichen erfolgt. Dabei wird sich die Homiletik nicht nur als eine nehmende, sondern auch als eine gebende Disziplin erweisen.
Das zeigt etwa die en passant fallende Bemerkung, »dass die Predigt nicht ein, sondern das Massenmedium des Mittelalters ist« (Regina D. Schiewer, 79). Die deutschsprachige Predigtüberlieferung setzt gegen 1170 ein und übertrifft diejenige in den anderen Ländern. Schon Karl der Große stabilisierte sein Reich nicht nur durch die stadtrömische Einheitsliturgie (Sacramentarium Gregorianum); auch wurde Kaiser Karl bereits in den 790er Jahren als praedicator gentium bezeichnet (Maximilian Dietzenberger, 31). Im 10. und 11. Jh. wurde die Predigt dann »noch mehr zu einer tragenden Säule der Herrschaft«, die zur Konsolidierung der von Gott eingesetzten Verhältnisse beitrug (Christoph Galle, 72). Bis zum 13. und 14. Jh. stieg das politische Bewusstsein der Päpste ins Unermessliche: Wenn Papst Bonifaz VIII. in einer Konsistorialpredigt von 1298 formulierte: »Ego sum Caesar, ego sum imperator« (Georg Strack, 103), dann ist das nicht weit entfernt von Pius IX. im Jahr des Unfehlbarkeitsdogmas 1870: »Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa!« (Hubert Wolf, Der Unfehlbare, München 2020, 13)
Ein ganz anderes Bild zeichnet Markus Wriedt von der städtischen Volkspredigt am Ausgang des Mittelalters. Diese gewann ihre große Plausibilität durch die konkreten Handlungsanweisungen, die in unmittelbarer Weise ansprachen. Bei den in franziskanischer Tradition konzipierten Predigten Geilers von Kaysersberg wussten die Zuhörenden »anschließend schlicht, was zu tun und was zu lassen ist« (143). In Michael Basses Beitrag zum 16. und 17. Jh. ist unter anderem die Einsicht bemerkenswert, dass die katholischen politischen Predigten »in vielerlei Hinsicht den protestantischen« entsprachen, so dass man von einem »konfessionsübergreifenden Grundkonsens« sprechen kann (172). Mit der Aufklärung, von Christian Volkmar Witt als »Zeitalter der Kritik« apostrophiert (181–207), entwickelt sich die Suche nach einer »zeitgemäßen und erbaulichen Predigt, die nicht zu oktroyieren hat, sondern in Anbetracht konkurrierender Medien zu überzeugen« (201).
Die Beiträge machen deutlich, dass die Theorie der Predigt allen Grund hat, ihren Gegenstand nicht nur als ein spezifisches Medium oder gar als ein Nischenphänomen zu betrachten. Die Predigt ist die viele Jahrhunderte wirkende Schule des Redens und Hörens und stellt als solche eine kulturelle und politische Realität ersten Ranges dar. Das gilt besonders, aber nicht nur für die Epochen des Umbruchs wie die Reformation (Michael Basse, 155–180) und den Beginn des bürgerlichen Zeitalters in der Schleiermacherzeit (Martin Ohst, 209–235).
Erst um 1800 entstand mit der Ausdifferenzierung von Politik, Religion, Wirtschaft und Recht das, was wir im heutigen Sinne als die »politische Predigt« bezeichnen. Ohst gelingt es aufzuzeigen, dass sich Schleiermachers Ideal politischer Predigt gerade nicht aus bestimmten »materialen ethisch-moralischen Normen speist« (213). Ebenso wenig aber zielt sie auf »Untertanengehorsam«. Sie ermutigt vielmehr »zum Engagement und Einsatz für das gegebene politische Gemeinwesen« (222). Die Predigt verweist den Menschen »auf das ihm vor- und aufgegebene Gemeinwesen als den Ort, an dem er […] zu wirken hat« (224).
Ruth Conrad erläutert, zu welch einem ambivalenten Phänomen die Predigt angesichts der sozialen Umbrüche des 19. Jh.s wurde: War man weitgehend davon überzeugt, dass nur eine allgemeine, aber individuell erfolgende Rückkehr zum Christentum die sozialen Missstände bessern konnte, so begann etwa Paul Drews, die lediglich individuell argumentierende Gewissenspredigt als fatale »Ergebungsreligion« zu beargwöhnen (252).
Über die national eingefärbte Predigt zwischen 1914 und 1945 formuliert Rolf Schieder aus aktuellem Anlass sehr treffend: »Man sollte sich Mentalitäten wie Viren vorstellen, die Menschen dann anfallen und von ihnen Besitz ergreifen, wenn deren Immunsys-tem geschwächt ist« (280). Lucian Hölschers Beitrag zur Zeit nach 1945 vertritt die These, dass es sich die politische Predigt vielfach einfach machte, indem sie »zur billigen Formel für die Vergebung der gegenwärtigen politische [sic] Schuld« griff (309, zu einer Predigt Helmut Thielickes 1946).
Unmittelbar in die praktische Homiletik zurück führt der ab­schließende zeitgeschichtliche Beitrag von Tobias Braune-Krickau zu den Jahren 2001–2018 (317–356). Die klassischen Fronten haben sich offensichtlich aufgelöst und man trifft nur noch selten »auf die einstmals so populäre Allianz zwischen linken und religionskri-tischen Denkmustern« (324). Inzwischen hat eine politikwissenschaftliche Analyse der EKD-Denkschriften von 1990 bis 2010 ergeben, dass sich »in praktisch allen relevanten Politikfeldern eine bis in die Formulierungen hinein greifbare Nähe zur parteipolitischen Programmatik von SPD und Grünen« feststellen lässt (326). An einer sorgfältigen Untersuchung von aktuellen Weihnachtspredigten macht Braune-Krickau deutlich, wie schmal der Grat zwischen der hilfreichen Konkretion und der übereilten prophetischen Attitüde verläuft.
Fazit: Es bekommt der Homiletik gut, wenn sie sich nicht nur mit den naheliegenden prinzipiellen, materialen und formalen Fragen beschäftigt, sondern diese durch historische Tiefenbohrungen fundamentiert. Freilich sind die einschlägigen und alltäglichen Problemstellungen damit nicht vom Tisch. Ein solides Konzept politischer Predigt heute setzt die Handhabung der geläufigen Instrumente (aus der Dogmatik, Hermeneutik und Rhetorik) immer schon voraus. Der homiletischen Forschung und Lehre ist damit eine integrative Theorie aufgegeben, die das Politische öf­fentlicher religiöser Rede historisch, prinzipiell und inhaltlich zu­gleich behandelt. Diese Zusammenhänge aufgezeigt zu haben ist das Verdienst des vorliegenden Bandes, der sich im Übrigen auch durch einschlägige Forschungsbibliographien (in allen zwölf Beiträgen) sowie durch eine angenehme typographische Gestaltung auszeichnet.