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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

117–119

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rieger, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Leiblichkeit in theologischer Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 317 S. m. 1 Abb. Kart. EUR 34,00. ISBN 9783170374508.

Rezensent:

Michael Coors

Mit diesem Buch legt der Schweizer Pfarrer und außerplanmäßige Professor für Systematische Theologie an der Universität Jena, Hans-Martin Rieger, eine in dichtem Stil verfasste Summe seiner Arbeiten zur Theologie der Leiblichkeit vor. Ausgehend von methodischen Überlegungen diskutiert er die philosophische Leibphänomenologie, interpretiert biblische Texte in Auseinandersetzung mit der historischen Exegese und zieht daraus Konsequenzen für die Bereiche der Erkenntnistheorie, der Gotteslehre, des Gottesdienstes und der menschlichen Lebensführung sowie für den Begriff der Menschenwürde.
Eine besondere Pointe stellen R.s Überlegungen zu einer leibtheologischen Erneuerung der Rede von der Seele dar. Dabei schert er sich wenig um oft festgefahrene theologische oder philosophische Schulstreitigkeiten, sondern rezipiert breit unterschiedliche Denkansätze und Traditionen der Theologie und Philosophie. Leitend ist dabei einerseits das Ziel, aufzuzeigen, »dass der christliche Glaube nicht lediglich in einer funktionalen, grundsätzlicher gesagt: in einer akzidentiellen Beziehung zum Körper bzw. Leib steht« (15), andererseits die methodische Entscheidung, dass theologische Reflexion davon lebt, sich von den Phänomenen belehren zu lassen (26 ff.), und damit auf eine Theorie der Wahrnehmung angewiesen ist. Damit fasst R. Theologie als eine phänomenologische Hermeneutik menschlichen Lebens, die den gegebenen Phänomenen nachdenkt, ohne sich ihrer begrifflich oder denkerisch bemächtigen zu können. Insofern gilt, dass es nur für den sich leiblich gegebenen Menschen überhaupt Phänomene geben kann (30), ergibt sich daraus notwendig die Aufgabe, Theologie als Reflexion der Leiblichkeit des Menschen zu konzipieren.
Breit rezipiert werden die vielfältigen philosophischen Diskussionen der Leibphänomenologie (35–72), die unter dem Gesichtspunkt zentraler begrifflicher Unterscheidungen (z. B. gelebter und erlebter, gespürter und pathischer, lebendiger und beseelter Leib) erfasst und dargestellt werden. Grundlegend ist dabei die Unterscheidung zwischen Erst-, Zweit- und Drittpersonenperspektive auf den Körper bzw. den Leib (38). Dabei werden allerdings die zum Teil subtilen Differenzen der rezipierten Positionen eingeebnet. Wenn z. B. davon die Rede ist, dass von Leiblichkeit nur in der Perspektive der ersten Person gesprochen werden kann und es in der Zweit- und Drittpersonenperspektive immer um den Körper gehe (ebd.), zeigt sich R. stärker von Schmitz als von den alteritätstheoretischen Ansätzen einer Leibphänomenologie (Merleau-Ponty, Waldenfels) geprägt, gleichwohl er diese auch rezipiert.
Diese Problematik tritt aber gegenüber den weiterführenden Studien zur Leiblichkeit in Anschluss an biblische Texte und exegetische Erkenntnisse (73–102) deutlich in den Hintergrund, in denen eine wesentliche Stärke des Buches liegt. Die Verknüpfung von historischer Exegese und systematisch-theologischem Denken gelingt R. dabei auch deswegen hervorragend, weil er systematisch-theologische Reflexion nicht als bloße Konsequenz historischer Exegese entwickelt, sondern durch einen eigenständigen systematisierenden Zugriff die Ergebnisse historisch-exegetischer Forschung in die theologische Reflexion integriert. Gerade weil er dabei die historische Abständigkeit der biblischen Texte ernst nimmt und sie nicht einfach in gegenwärtige Leibphänomenologie übersetzt, gelingt es ihm, neue Einsichten zu generieren, die über die gegenwärtigen leibphänomenologischen Diskurse hinaus verweisen. Die folgenden Kapitel greifen diese an den biblischen Texten gewonnenen Einsichten auf und vertiefen sie systematisch-theologisch. Das sei exemplarisch an zwei Beispielen skizziert, nämlich am Phänomen der Angewiesenheit des lebendigen Leibes, das sich im hebräischen Begriff næfæsch ausdrückt, der zugleich für die Lebendigkeit des Leibes wie auch für die Individualität der pathischen Leiblichkeit steht (81 f.), und an der Reflexion auf den Begriff des Herzens, das als »Vermittlungs- und Orientierungsorgan« an der Grenze von innen und außen fungiert (93–97). Diese beiden in der Auslegung biblischer Texte fundierten Beobachtungen bilden die Grundlage dafür, dass in den weiteren Ausführungen zum einen das menschliche Erkennen zurückgebunden wird an die leiblich fundierte Emotionalität und Habitualität (131 ff.) und zum anderen im letzten Kapitel des Buches (253–280) für die Erneuerung des Begriffs der Seele geworben wird.
Für die theologische Rekonstruktion einer Theorie des leiblichen Erkennens greift R. wiederum auf zahlreiche Referenzautoren zurück (u. a. Scheler, Heidegger, Bourdieu) und rekonstruiert in dichten Analysen die konzeptionellen Entwicklungen. Einen Ausgangspunkt stellen für ihn dabei die Ausführungen von Blaise Pascal dar, in denen dieser gegenüber der Descart’schen Erkenntnistheorie schon früh die Leibgebundenheit der menschlichen Er­kenntnis betont (121 f.). Die Vernunft ist bei ihm, so R., »eine Fähigkeit der Mitte, eingebettet zwischen dem habituellen Weltzugang des Leibes und der ästimativ-intuitiven Welterfassung des Herzens« (122). Bei Pascal findet R. also ein ähnliches Zusammenspiel von Leiblichkeit und Herz sowie die Rückbindung der menschlichen Vernunft an diese pathischen Dimensionen menschlichen Lebens, wie er es schon in den biblischen Texten identifiziert hat. Dabei steht der Begriff des Herzens für das grundlegende menschliche Streben und ist damit von vornherein ethisch konnotiert. Es ist »für die Ausrichtung, die Funktionsweise und das Zusammenwirken aller menschlichen Vermögen entscheidend« (123). So wird die Vernunft des Menschen bei R. doppelt eingebettet (126–131): in »die Vollzüge des Leibes und des Herzens« (126). Dieser doppelten Einbettung entspricht die dann folgende Auseinandersetzung mit Theorien des Habitus und Theorien der Emotionalität menschlicher Erkenntnis. R. folgert m. E. überzeugend, dass »[j]ede kognitiv-i ntentionale Weltbeziehung […] auf einer affektiv-evaluativen Weltbeziehung auf[ruht], in die sozial-leibliche Empfindungs- und Orientierungsmuster eingeschrieben sind« (149). Christlicher Glaube kann vor diesem Hintergrund verstanden werden als eine Transformation dieses komplexen Zusammenspiels von Herz, Leib und Verstand: Es geht im Glauben um »ein neues Wahrnehmen und Verstehen und eine diesen zugrundeliegende Lebenspraxis, in die sich eine affektiv-evaluative Weltbeziehung gleichsam inkorporiert hat« (157). Das hat Konsequenzen für die Gotteslehre (161–181) und führt zu einer positiven Aufwertung der Leiblichkeit des Gottesdienstes. Damit ist allerdings nicht allein der liturgische Gottesdienst (209–214) im Blick, vielmehr wird die Lebensführung als Ganze im Spannungsfeld von Gabe und Aufgabe als Gottesdienst begriffen und entfaltet (183–218). Darum werden schon in diesem Kapitel wichtige ethische Fragestellungen der Lebensführung (u. a. Gesundheit, Altern, Sexualität) thematisiert.
R. bündelt seine Studien zur Leiblichkeit abschließend, indem er den Begriff der Seele im Anschluss an die biblischen Texte neu deutet (253–280). Vor dem Hintergrund einer luzide rekonstruierten Geschichte des Verschwindens der Seele – die einerseits durch das Bewusstsein ersetzt wird, andererseits in einer vollständigen Verleiblichung zu verschwinden droht – plädiert er für ein Verständnis der Seele als individueller Lebens- und Strebensgestalt der leiblichen Existenz des Menschen. Mit dem Begriff der Seele werden ebenjene Aspekte zusammengefasst, die konstitutiv sind für die Leiblichkeit des Menschen: das Belebtsein des Leibes, die Unvertretbarkeit und Individualität des leiblichen Erlebens einer Person und das leiblich sich vollziehende Streben des menschlichen Herzens. Der Begriff der Seele ist darum nicht aufzugeben und sollte auch nicht im Begriff der Leiblichkeit aufgehen, weil er ebendiese Aspekte menschlichen Leibseins zur Sprache bringt.
Es gelingt R. in überzeugender Art und Weise zu zeigen, dass der in der evangelischen Theologie schon fast zum Gemeinplatz verkommene Verweis auf die leibseelische Einheit des Menschen bei näherem Hinsehen eine ganze Reihe von weiterführenden Fragen theologischer und philosophischer Art aufwirft, die theologisch bei Weitem noch nicht hinreichend diskutiert sind und die zu diskutieren die Theologie nicht allein der philosophischen Phänomenologie überlassen sollte. An einer Auseinandersetzung mit R.s kenntnisreichen, detaillierten und differenzierten Studien wird man dabei – bei aller Notwendigkeit auch zur kritischen Diskussion einzelner Thesen – nicht mehr vorbeikommen.