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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

111–115

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Charbonnier, Ralph, Dierken, Jörg, u. Malte Dominik Krüger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Eindeutigkeit und Ambivalenzen. Theologie und Digitalisierungsdiskurs.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 346 S. = Hermeneutik und Ästhetik, 6. Kart. EUR 44,00. ISBN 9783374069668.

Rezensent:

Wolfgang Huber

Dieser Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die am 2. März 2020, also unmittelbar bevor die Corona-Pandemie Deutschland erreichte, als Kooperationsveranstaltung der Evangelischen Akademie Frankfurt, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Philipps-Unversität Marburg, gefördert von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), durchgeführt wurde. Nicht etwa die »meisten der hier publizierten Beiträge« (13), sondern nur vier der acht bzw. mit der Einleitung von Ralph Charbonnier und dem Schlussbeitrag von Jörg Dierken zehn Beiträge wurden auf der Frankfurter Tagung präsentiert. Auch der erste, sechzig Seiten lange Beitrag von Malte Dominik Krüger wurde nicht für die Frankfurter Tagung erarbeitet, sondern beruht auf der Marburger Antrittsvorlesung des Autors aus dem Jahr 2017.
Der Befund, von dem der Band ausgeht, besteht darin, dass – nach Charbonniers Diagnose – die evangelische Dogmatik sich bisher mit der Digitalisierung nur wenig beschäftigt hat. Dort, wo systematisch-theologische Topoi anklingen, geschieht das vorwiegend in ethischer Absicht. Eine theologisch-dogmatische Perspektive soll entsprechend den einleitenden Überlegungen der Annahme folgen, »dass digitale Medien mit ihrem binären Code ein Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln nach Dualen von ›ja – nein‹, ›entweder – oder‹, ›like – dislike‹ verstärken.« (13) Diese grundsätz- liche Aufladung der Digitalisierung wird im Beitrag von Malte Dominik Krüger durch einen Bezug auf Byung-Chul Han verschärft, der die mit der Digitalisierung verbundene Möglichkeit gesteigerter Transparenz als eine »Hölle des Gleichen« bezeichnet (27). Im Vergleich zu einem solchen »Alarmismus« betont Jörg Dierken in den Schlussbemerkungen zu diesem Buch mit Recht: »Die digitale Binarität baut durch Selbstanwendungen und -potenzierungen tendenziell unendliche Komplexität auf und reduziert sie zugleich auf das Elementarste. Das macht sie grundsätzlich auf alles anwendbar.« (329) Dass Han’s These in ihrer Zuspitzung nicht haltbar ist, bemerkt auch Krüger, indem er auf die Leistungsfähigkeit des binären Verfahrens aufmerksam macht, das nicht nur analoge Vielfalt in sich aufnehmen, sondern auch wieder aus sich freisetzen kann. Daraus lässt sich gegen manche Formulierungen in diesem Buch folgern: Wenn in sozialen Medien dazu aufgefordert wird, »likes« oder »dislikes« zu verteilen, liegt das nicht am digitalen Verfahren als solchem, sondern an einer willentlich problematischen Nutzung dieses Verfahrens, die ebenfalls im analogen Bereich möglich ist und praktiziert wird.
Deshalb erscheint es fraglich, ob und wenn ja wie der religionshermeneutische Ansatzpunkt, den Krüger im weiteren Verlauf seines Textes entwickelt, überhaupt mit dem »Digitalisierungsdiskurs« im Zusammenhang steht. Der Autor bezieht sich dafür insbesondere auf die Studien von Jonas zu »Organismus und Freiheit«, für die das Bildvermögen des Menschen beziehungsweise seine Einbildungskraft eine entscheidende Rolle spielt. Das veranlasst Krüger zu dem Vorschlag, die hermeneutische Theologie zu einer bildhermeneutischen Theologie weiterzuentwickeln. Man mag sich freilich wünschen, dass dabei das Verhältnis bildhermeneutischer und bildkritischer Traditionen zumindest anklingt. Der Rückbezug der langen religionshermeneutischen Überlegungen auf den Digitalisierungsdiskurs ist jedenfalls denkbar kurz: Die »Hintergründigkeit in geheimnisvoller Unschärfe, die Gottes Wirklichkeit in der Einbildungskraft des Glaubens ernst nimmt«, erfordert, dass weder das Analoge noch das Digitale einseitig herrschen dürfen (79).
Joachim Knape kündigt an, er wolle über die Differenz zwischen analogen und digitalen Medien sprechen. Dafür wählt er den Zugang über die zunächst anonymisiert eingeführte Kurzgeschichte Heinrich Bölls über »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen«. Dieser Zugang begeistert den Autor so sehr, dass darüber seine ursprüngliche Absicht in Vergessenheit gerät. Dafür haben Leserinnen und Leser die Freude, Dr. Murke und Professor Bur-Malottke noch einmal im Personenregister des Buchs zu begegnen.
Während andere Autoren Digitalisierung mit einer Eindeutigkeit gleichsetzen, die der Ambiguität der Lebenswelt nicht gerecht wird, verwendet Michael Klessmann das Begriffspaar in anderer Weise. Die Gegenwart – die er allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf die Digitalisierung charakterisiert – ist durch ein Ende der Eindeutigkeit charakterisiert. Gerade in religiöser Hinsicht ist sie durch eine Ambiguisierung gekennzeichnet, auf die Theologie und Kirche reagieren müssen. Seine Antwort läuft darauf hinaus, dass die Kirchen Räume für Spiritualität offen zu halten haben, in denen subjektive Religiosität und religiöse Traditionen einander begegnen können.
Wie schon der Beitrag von Knape enthält auch derjenige von Jürgen Rink keinen expliziten Bezug zur theologischen Debatte. Am Beispiel der Brexit-Abstimmung zeigt er die verhängnisvolle Rolle von Facebook für die politische Urteilsbildung. Am Beispiel eines getäuschten und dadurch um 220.000 EUR geprellten CEO zeigt er, wie durch das digitale Imitieren von Sprache (Deepfake Voice) Menschen in die Irre geführt werden. Er ergänzt, dass dies auch durch gefakte Photos, Videos und Texte geschehen kann. Dies verbindet er mit dem Appell, solche Missbrauchsmöglichkeiten ernst zu nehmen.
So wie Armin Nassehi in seinem Buch »Muster« die Digitalisierung als technischen Spiegel einer digitalen Gesellschaft betrachtet, sieht Martin Jockel im Protestantismus nichts anderes als die »(Re-)Digitalisierung der Kirche«. Er benutzt dafür eine Inspiration von Nassehi, der die Entscheidung des frühen Christentums, auf die Pflicht zur Beschneidung der männlichen Nachkommen und auf die Einhaltung strenger Speisevorschriften zu verzichten, als eine »zivilisatorische« betrachtet, »weil man dann Personen unter Absehung der Person aufnehmen kann« (151). Man braucht allerdings schon einen sehr gedehnten Begriff der Digitalisierung, um diesem Gedankengang zu folgen. Im Blick auf den Protestantismus spitzt Jockel diese Spekulation weiter zu: Die Reformation habe die graduelle soteriologische Logik des mittelalterlichen Katholizismus zugunsten der binären Logik von »glauben/nicht glauben« aufgegeben und dadurch eine (Re-)Digitalisierung der Kirche be­wirkt. Das kann man bestenfalls als eine willkürlich-metaphorische Verwendung von Digitalisierung betrachten, auf die alsbald eine metaphorische Verwendung der Genetik folgt: »Der Protestantismus ist in seiner DNA digital.« (151) Die Botanik schließt sich in der Forderung an, eine »Gleichzeitigkeit von binärer ›Wurzel‹ und ambivalenter ›Krone‹« nicht zugunsten einer nur binären Logik aufzugeben (153). Solche Spekulationen gehen über die auch schon kühne Behauptung von Nassehi über den digitalen Charakter der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft weit hinaus, indem nicht nur die von Leibniz eingeführte mathematische Binarität, sondern jede sprachliche Verneinung als digital bezeichnet wird. Ob die darauf gegründete These vom »digitalen Glauben« dem Digitalisierungsdiskurs in der Theologie tatsächlich weiterhilft, erscheint fraglich.
Sehr solide erscheint im Vergleich hierzu die Studie von Constantin Plaul, der Julian Nida-Rümelins These vom digitalen Humanismus aufnimmt und theologisch weiterführt. Allerdings könnte man einen etwas kritischeren Zugang zu Nida-Rümelins Leitbegriff erwarten. Denn »digital« ist nicht eine Eigenschaft des Humanismus; vielmehr geht es dem Philosophen und dem ihm folgenden Theologen darum, den Humanismus angesichts der Digitalisierung festzuhalten und weiterzuentwickeln. Das kommt in der Verwendung von »digital« als Attribut von Humanismus keineswegs angemessen zum Ausdruck. Analoges gilt auch für »digitale Ethik« oder »digitale Theologie«. Bedauerlicherweise trennt Plaul sich von Nida-Rümelin an einer entscheidenden Stelle. Während dieser unter Verweis auf die Zusammengehörigkeit von Handeln und Freiheit eine juristische Kategorie der »elektronischen Person« ablehnt, meint Plaul dies unter Verweis auf den Begriff der »juristischen Person« bejahen zu können. Dabei übersieht er, dass für die Handlungen von juristischen Personen stets natürliche Personen haftbar sind; die Zusammengehörigkeit von Handeln und Freiheit wird also gerade nicht aufgelöst. Demgegenüber hat der Begriff der »elektronischen Person« nur dann einen nachvollziehbaren Sinn, wenn diese für ihre Handlungen Verantwortung trägt. Die in der Maschinen- und Roboterethik um sich greifende Vorstellung von einer Autonomie der Maschine, auf welch verschlungenen Wegen auch immer eine solche Ausweitung des Autonomie-Begriffs erfolgt, verträgt sich mit einem »digitalen Humanismus« nur schwer. Die Brücke zur Theologie betritt Plaul auf dem Weg, dass er die Freiheit des Menschen, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten, als eine Fähigkeit ansieht, die nicht ihrerseits Resultat einer Selbstbestimmung sein kann. Diese Fähigkeit gilt in kollektiver Hinsicht ebenso wie in individueller und bedarf deshalb einer religiösen Artikulation, die der Verfasser in der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit findet.
Der hundertseitige Essay von Dietrich Korsch bildet für den Rezensenten den Höhepunkt dieses Buchs. Unter dem Titel »Rechnen und Verstehen« will er »Anfänge zur Kritik der digitalen Vernunft« darbieten. Es handelt sich um einen anmerkungsfreien Text ohne jeden Bezug auf andere Autorinnen oder Autoren. Das erfordert, dass der Autor mit den Anfängen aller Erkenntniskritik beginnt: »Woher weißt du das alles?« Von anderen Beiträgen in diesem Buch unterscheidet sich Korschs Essay wohltuend dadurch, dass er digitale Prozesse nicht auf das binäre Grundgerüst reduziert, sondern die ungeheure Schnelligkeit, die durch diesen Ausgangspunkt ermöglicht wird, zu den komplexen Programmstrukturen und Verarbeitungskapazitäten in Beziehung setzt. Von hier aus beschreibt er die lebensweltlichen Veränderungen durch den Vergleich zwischen typischen Abläufen unter vordigitalen und digitalen Bedingungen. Erstaunlicherweise berührt er das Phänomen nicht, dass von den gewaltigen Zeitersparnissen, die durch die Geschwindigkeit digitaler Erledigungen entstehen, in der Regel nichts übrigbleibt, weil sie durch das Ausmaß digitalen Zeitvertreibs (über-)kompensiert werden. In umfassenden, hier nicht nachzuzeichnenden Diskursen behandelt der Autor zunächst die Logik des Algorithmus, der für den Benutzer kein Selbstzweck ist, sondern mit dessen Benutzung er etwas will, etwas anfangen möchte. Das führt aus der Logik des Rechnens hinaus in die Logik des Verstehens. Das Verstehen bedarf der Sprache; wann immer wir sprachlich kommunizieren, machen wir von dem Gegebensein der Sprache Gebrauch. Damit vollzieht sich der Übergang zur theologischen Argumentation. Mit ihr wird ein Verständnis der Freiheit erreicht, das ein Bewusstsein unaufhebbarer Abhängigkeiten einschließt. Zur Freiheit gehört aber ebenso die Fähigkeit, Nein sagen zu können. Diese Fähigkeit zu entwickeln und zu praktizieren ist unter digitalen Bedingungen unerlässlich: »Das will ich jetzt nicht« (241). Religion, so hält Korsch fest, »ist nicht Flucht aus der Welt, sondern Widerstand gegen die uns in der Unfreiheit haltende Welt. Und diese Zumutung hat in der digitalen Welt ein bisher unbekanntes Niveau erreicht« (245). Im Blick auf die Dialektik der Bilder sowie auf Kommunikation und Vertrauen werden diese Überlegungen vertieft. Dieser bedeutsame Essay präsentiert eine theologische Reflexion der digitalen Welt, die zu einer eigenständigen Grundhaltung gegenüber den Phänomenen und Herausforderungen der digitalen Welt Wichtiges beiträgt.
Christine Axt-Piscalar wählt die soziologische Diagnose der Gegenwartsgesellschaft zum Ausgangspunkt, die Andreas Reckwitz mit seinen Büchern über die »Gesellschaft der Singularitäten« und »Das Ende der Illusionen« vorgelegt hat. Sie übernimmt von Reckwitz den Begriff der Spätmoderne – einen Begriff, der die Er­wartung eines baldigen Endes dieser geschichtlichen Konstellation einschließt. Ihr Anspruch ist deshalb auf den Beitrag von Theologie und Kirche nicht nur zur kritischen Reflexion, sondern zur Transformation der spätmodernen Gesellschaft gerichtet. Unter diesem Gesichtspunkt behandelt sie zum einen die Selbsterfahrung des Subjekts und zum anderen die Codierung von Gemeinschaft unter dem Gesichtspunkt, welche Bedeutung jeweils der Digitalisierung zukommt. Im Blick auf die Frage nach dem Subjekt gilt ihre Auf merksamkeit den Prozessen von Selbst- und Fremdsingularisierung im digitalen Netz. Theologisch deutet sie die gesteigerte Selbstbezüglichkeit der Einzelnen im Wirkzusammenhang der Sünde. Sie verdeutlicht das insbesondere daran, »dass die Subjekte im eigenen Wollen faktisch – und das heißt nicht unbedingt be­wusst – nicht mehr Herr ihres eigenen Willens sind« (306). Diesen Zugang kontrastiert sie mit der gegenläufigen Beobachtung, derzufolge mit den (digitalen) Praktiken der Singularisierung »auch ein Gewinn an Lebenssteigerung verbunden sein kann.« (309) Sie bindet diese Möglichkeit nicht wie Korsch an die Möglichkeit, »Nein« sagen zu können, sondern an die Fähigkeit, mit diesen Praktiken spielerisch umzugehen und sie mit anderen zu teilen. Das allerdings setzt ein gefestigtes Selbst voraus, dessen Selbstwert-gefühl nicht an der digitalen Anerkennung für seine performance hängt. Um eine solche dem eigenen Handeln vorgegebene Anerkennung geht es dem rechtfertigenden Glauben, dem deshalb gerade in der Gesellschaft der Singularitäten Raum gegeben werden muss. Zu diesem Glauben gehört die gelingende Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Aus einer solchen Perspektive muss theologisch die Bindung an das Individualisierungsparadigma genauso kritisch überprüft werden wie eine Ge­stalt der Kirche, gerade auch im digitalen Raum, deren Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft Defizite aufweist.
Gerade wegen der beiden zuletzt besprochenen Beiträge verdient dieses Buch Beachtung bei der Fortführung des theologischen »Digitalisierungsdiskurses«.