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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

106–107

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rieger, Georg Conrad

Titel/Untertitel:

Die württembergische Tabea. Lebensbeschreibung der exemplarischen Pietistin Beata Sturm (1682–1730). Hg. v. M. H. Jung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 273 S. = Edition Pietismustexte, 14. Kart. EUR 30,00. ISBN 9783374066773.

Rezensent:

Wolfgang Schöllkopf

Der Autor dieser im schwäbischen Pietismus längst legendären Erzählung von der frommen Frau ist bereits in dem berühmten Gedicht von Eduard Mörike vom Turmhahn verewigt, wo es im Blick auf das Bücherregal des Pfarrers heißt: »Da stehn in Pergament und Leder vornan die frommen Schwabenväter: Andreä, Bengel, Rieger zween, samt Oetinger sind da zu sehn.«
Gemeint sind die beiden Predigtbände von Georg Konrad Rieger (1687–1743), der in der herzoglichen Landeshauptstadt Stuttgart Gymnasialprofessor, Pfarrer an der Stifts- und Leonhardskirche sowie Spezial an der Hospitalkirche war und als Prediger weit bekannt wurde. 1730 verfasste er die Lebens- und Leidensgeschichte der württembergischen Tabea, die der Kenner der Quellen des Pietismus Martin Jung, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Osnabrück, neu herausgegeben hat. Der Ruf dieser renommierten Reihe steht für die seriöse wissenschaftliche Herausgabe wichtiger Quellentexte mit aktueller Kommentierung, so auch hier. Dabei schreibt die Quelle selbst schon eine umfangreiche Rezeptionsgeschichte, auch ihrer Kritik, weshalb Jungs präzise editorische Notiz (249–256) bedeutsam ist.
Die Quelle, die in den ersten Ausgaben über 500 Seiten umfasst, ist nicht homogen, sondern ein Sammelsurium einer frommen Autobiographie, samt kommentierenden Predigtteilen, Gedichten, Briefen und Liedern und das auch noch aus verschiedenen Federn. Grundlage ist die Leichenpredigt eines trotz aller Nachforschungen immer noch unbekannten Predigers für die mit 48 Jahren verstorbene Beata Sturm, die aus einer Familie der württembergischen Ehrbarkeit stammte, ledig blieb und ein frommes Leben führte, das nach pietistischer Manier zum Exempel erhoben wurde. Ihre Glaubens- und Gebetspraxis wurde zusammen mit ihrer Leidensgeschichte zu einer Heiligenlegende verwoben. Man konnte zwar evangelisch nicht zu ihr, wohl aber mit ihr beten und beten lernen. Ihr weit verbreitetes Porträt, das auch das Buch ziert, zeigt sie in geradezu entrückter oder gar debiler Pose, was jedoch ihrem schweren Augenleiden geschuldet ist.
In der Zeit, als die Auseinandersetzung des Pietismus mit der Kultur des Barock auf ihrem Höhepunkt war, entstand so eine ebenso innige wie barocke Darstellung einer frommen Frauengeschichte. Diese ist in verschiedene Sammelbiographien eingegangen und dadurch populär geworden, weit über Württemberg hinaus. Neben den biographischen Details wählte der Herausgeber vor allem die biblisch-theologischen Kapitel aus mit meist emblematischer Exegese, etwa zur Stiftshütte (129 ff.). Zeitgeschichtlich spannend ist die Auseinandersetzung mit dem Separatismus, zu des-sen Ablehnung Beata Sturm eine Hochschätzung des kirchlichen Gottesdienstes geholfen hat (172). So hatte sie gar »den Luther er­schmäckt« (53)! Trotz intensiven Gebetslebens lehnte die Verehrte Gebetsgemeinschaften ab (85). Nach langem Ringen entschied sie sich auch gegen die Vorstellung von der Apokatastasis, der Allversöhnung (168).
Die Edition ist gediegen und mit vielen bienenfleißigen Erkundungen versehen. Dennoch heißt es noch öfter »nicht ermittelt«, was weitere Spurensuchen erfordert, etwa, was genannte Personen betrifft. Manchmal wundern die gewählten Formulierungen, wenn Erbauungsstunden »durchgeführt« (75.80) oder die traditionsreichen Klosterschulen »Schulinternat« (257.263) genannt werden (da­gegen: 14, Anm. 39). Seltsam, dass beim Vergleich mit der aussagekräftigen Heilungsgeschichte der Katharina Hummel in Leonberg im Jahr 1644 (99 f.) nur längst veraltete Literatur genannt wird, die nun wirklich nicht mehr weiterhilft (siehe dagegen: Renate Dürr, Die Wunderheilung der Katharina Hummel 1664, in: Dies., Nicole Bauer, Nonne, Magd oder Ratsfrau – Frauenleben in Leonberg aus vier Jahrhunderten, Leonberg 1998, 85–95 [Anm. S. 275–279]; Dies., Prophetie und Wunderglaube – zu den kulturellen Folgen der Reformation, in: Historische Zeitschrift 281, Heft 1, 2005; Martin Scharfe, Wunder und Wunderglaube im protestantischen Württemberg, in: BWKG 68/69, 190–206). Letztgenannter hatte übrigens in seiner »Religion des Volkes – Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus« (Gütersloh 1980) erstmals Riegers württembergische Tabea kritisch kommentiert (49–53).
Aber diese Details schmälern das Verdienst nicht, eine mehrfach ergiebige Quelle des Altpietismus wieder neu zugänglich gemacht zu haben. Dabei nennt Martin Jung auch die spannenden Themen, an denen nun mit dieser Quelle weitergearbeitet werden könnte: Frömmigkeitspraktiken im Pietismus, Konkretionen des allgemeinen Priestertums, Umgang mit Krankheit und Behinderung, Sicht und Rolle der Frauen (nach 261). Spuren dafür legt der Herausgeber in seinem gehaltvollen, theologisch dichten Nachwort. Der Fortschritt in diesen Fragen wird sich, wie es so typisch schwäbisch von der Glaubensentwicklung der Beata Sturm heißt, ebenso nicht in einem »saltus«, sondern »Schritt für Schritt« (33) ereignen, auch dank dieser, durch detailreiche Namen-, Bibelstellen- und sogar Sachregister erschlossenen Ausgabe.