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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

104–106

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Maurer, Michael

Titel/Untertitel:

Konfessionskulturen. Die Europäer als Protestanten und Katholiken.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019. 415 S. m. 10 Abb. Geb. EUR 49,90. ISBN 9783506787279.

Rezensent:

Luise Schorn-Schütte

Das Europa der Frühen Neuzeit war ein Kontinent der Vielfalt: Regionale Differenzierung und Konfessionsgegensätze waren seit dem 16. Jh. charakteristische Merkmale, mit denen alle Bemühungen um Herrschaftskonzentration konfrontiert waren. In der jüngeren kirchen- und kulturhistorischen Forschung wird die mit der Reformation beginnende konfessionelle Spaltung als »Entwicklung von Konfessionskulturen« beschrieben, ein Deutungsmuster, das Michael Maurer, Historiker an der Universität Jena, als methodisch und inhaltlich wichtige Grundlage seiner Darstellung un-terstreicht (7 f.). Damit ist zweifelsohne ein Perspektivenwechsel verbunden, der für den Betrachter der Gesamtepoche frömmigkeitshistorische, theologiegeschichtliche und religionspolitische Ent­wicklungen in den Vordergrund rückt. Die frühneuzeitspezifische Verzahnung von sozialen, politischen und religiösen Entwicklungen gerät damit in den Hintergrund. Ist das ein Gewinn?
Das Buch ist klar gegliedert, die Durchführung für den Leser, der mit der Materie vertraut ist, sehr erhellend, für Neulinge gilt das nicht immer. Der Text besteht aus vier Teilen: I. Europa teilt sich auf: Die Entstehung der Konfessionen; II. Protestantischer Habitus und katholische Identität; III. Protestantische Kulturhegemonie und Aufklärung; IV. Rekonfessionalisierung und Dekonfessionalisierung. Entlang dieser auch chronologischen Leitlinien analysiert M. auf einem breiten Forschungsstand und mit ausgezeichneter Kenntnis ein, wie betont, kulturgeschichtlich orientiertes Themenfeld. Mit ihrer Etablierung im 16. Jh. hat sich die reformatorische Theologie und Lebensführung in ganz Europa (Ost- wie Westeuropa) entfaltet, damit zersplitterte die noch am Ausgang des Mittelalters weitgehend geschlossene religiöse Einheit des römischen Christentums. Mit der Gegenbewegung im katho-lischen Raum (katholische Reform/Gegenreformation) entstan-den differenzierte Konfessionslandschaften, beide Seiten grenzten sich voneinander ab. Auf protestantischer Seite identifiziert M. eine »Pluralisierungsdynamik« – ein treffender Begriff, der in den folgenden Kapiteln weiter entfaltet wird. Für das 17. Jh. (Teil II) wirkt der Wettbewerb der Konfessionen als manchmal feindliches Gegenüber von protestantischem Habitus und katholischer Iden tität. Dazu gehören: die unterschiedlichen Entwicklungen des Amts- und Selbstverständnisses der Geistlichkeit; die differierenden Auffassungen zur Rolle Marias in den Konfessionen; die Differenzierung eines konfessionsspezifischen Individualismus; die Herausbildung eines protestantischen Arbeitsethos, das in engem Zusammenhang mit der Entstehung bürgerlicher Tugenden zu sehen ist und in die forschungsprägende Debatte um den »Geist des Kapitalismus« (Weber-These) mündet; die Unterschiede in der Bewertung der Rolle von Musik und/oder bildender Kunst; die Gegensätzlichkeit der Wertung des biblischen Textes (protestantische Wortbezogenheit) bei paralleler Wertigkeit religiöser Symbole und Rituale im katholischen Raum u. a. m. Als Ergebnis konstatiert M. den »konfessionalisierten Menschen« (231 ff.).
Die Pluralisierungsdynamik des Protestantismus beschleunigte zwar die allgemeine Entgrenzung des Christlichen auch im altkirchlichen Bereich (233), bis in die Mitte des 18. Jh.s aber blieb der Kampf um den Geltungsbereich des Religiösen im öffentlichen Raum dominant. Wie differenziert sich dieses Ringen in den katholischen und protestantischen Regionen entwickelte, skizziert M. im Teil III anhand der Kontroversen um Umfang und Geltung religiöser Toleranz. Die Berufung nämlich auf das Gewissen, auf das Recht zu individueller Glaubensentscheidung lief der bis dahin gültigen Tendenz zur konfessionellen Vereinheitlichung entgegen. Die konfessionellen Glaubenskämpfe erwiesen sich als herrschaftsbezogener Machtanspruch, der konfessionsspezifisch-theologische Wahrheitsanspruch entwickelte sich demgegenüber zur Legitimation von Widerstand. Allmählich setzte sich u. a. in den paritätischen Reichsstädten, im Augsburger Religionsfrieden mit dem ius emigrandi die Realität des Gewalt vermeidenden Nebeneinanders statt des Gegeneinanders durch. Letztlich erwies sich die Verrechtlichung der Konfessionsdifferenzen als Entkonfessionalisierung der Politik (als Beispiele dienen die Niederlande, die Regelungen des Westfälischen Friedens, die protestantische Toleranz im England des 17./18. Jh.s, die Rolle der konfessionellen Identität der Hugenotten). M. charakterisiert den dadurch geprägten internationalen Kontext in der Mitte des 18. Jh.s als »Etablierung eines hegemonialen protestantischen Diskurses« (253). Dessen Durchsetzung vollzog sich parallel zur Delegitimierung der damaligen europäischen katholischen Führungsmacht Spanien. Und in den folgenden Jahrzehnten setzte sich, so die Interpretation, eine negative Sicht auf den südeuropäischen Katholizismus aus dem Blickwinkel etlicher Protestanten durch: Die Pracht der Klöster etwa galt als Provokation, Prunk habe unter dem Vorwand der Religion gestanden (261). Aus zeitgenössischer protestantischer Sicht sollte deshalb das Konfessionelle überwunden werden, eine über den Konfessionen stehende neutrale staatliche Ordnung müsse in Geltung gesetzt werden.
Dagegen setzte die »Rekonfessionalisierung« des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh.s insbesondere im katholischen Raum neue Kräfte frei. Dieser Entwicklung ist Teil IV gewidmet. In den 1830er-Jahren konnte sich die katholische Kirche in den wachsenden gemischtkonfessionellen Regionen z. B. als Freiheitsort etablieren (297 f.), während die Protestanten diesen sowohl der Romantik als auch in Gestalt des »Ultramontanismus« der römischen Kirche nahestehenden Katholizismus als »undeutsch« charakterisierten (299). Diese Zuordnung entstand im protestantischen Raum bereits der Befreiungskriege als Fortsetzung der langfristigeren Säkularisierungsbewegung. Die abschließenden Kapitel des vierten Teils widmen sich der viel diskutierten Sakralisierung der Nation im 19. Jh. und dem Verhältnis von Religion und autoritären politischen Systemen (hier auch im Sozialismus) ebenso wie dem großen Feld der Beziehung von Katholizismus und Moderne.
Der umfassende Gang vom 16. zum 20. Jh. hat einen kräftigen roten Faden: den Zusammenhang von christlichen Konfessionen und Politik. Während in der ersten Phase herrschaftliche Macht die Konfessionskirchen zu unterwerfen suchte, veränderte sich diese Zuordnung aufgrund der Pluralisierung des Protestantismus. Individualrechte, Gewissen, Menschen- und Freiheitsrechte wurden in allen christlichen Konfessionen in sehr unterschiedlicher Weise zum Motor einer Entkoppelung des Religiösen von politischer Macht. Für die Frühe Neuzeit wird das in der Forschung als Ende der Konfessionalisierung im 18. Jh. beschrieben. An diese Deutung schließt M. seine Charakterisierungen für das frühe 19. und 20. Jh. an. Über diese Verbindung ist sich die Forschung allerdings nicht einig.
Und gerade hier kann die eingangs gestellte Frage aufgenommen werden: Die strikte Konzentration auf die Entwicklung von Konfessionskulturen, also auf die Beziehung von Religion und Herrschaftsanspruch und -system ist ein Gewinn. Denn die wechselseitige Prägung der konfessionsspezifischen Lebenswelten, die wechselseitige Formung von Begriffen und Bildern, von Mythen und Gegenmythen, von Verzerrungen und Verurteilungen der jeweils anderen Gruppe wird mit Hilfe dieser klaren Frage greifbarer. Allerdings: Die methodische und begriffsbezogene »Isolation« führt für den Historiker, der sich auf diese nicht einlässt, der sich ebenso stark mit den sozialen, wirtschaftlichen, außenpolitischen Kontexten der Kernproblematik befasst, zur Reduktion der komplexen Realität. Das mag legitim sein, aber es ist eine Legitimität zulasten der präzisen Benennung des historischen Wandels. Das kluge Buch M.s trägt zu dieser Differenzierung der Wahrnehmung – unbeabsichtigt – bei.