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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

102–104

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gockel, Matthias, Pangritz, Andreas, u. Ulrike Sallandt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Umstrittenes Erbe. Lesarten der Theologie Karl Barths.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 266 S. Kart. EUR 36,00. ISBN 9783170374485.

Rezensent:

Doris Hiller

Der zu besprechende Band sammelt die Beiträge einer 2018 an der Universität Bonn durchgeführten Tagung mit dem Titel »Konstellationen des (Anti-)Barthianismus«. Abgesehen davon, dass der Tagungstitel für die Veröffentlichung vermutlich zu sperrig und spezifisch gewesen sein dürfte, gibt der Buchtitel treffend das Ergebnis der Tagung wieder. Aus einer dem Tagungsformat entsprechenden, vielstimmigen Suchbewegung im Gedenkjahr zum Tode Karl Barths ist im Ertrag ein stimmiges Erbe entstanden, das nicht nachgelassen verstauben muss, sondern in allem Streit um Positionierungen zu seinem Œuvre lebendig gehalten werden muss. Damit ist der Band ein Beitrag zu einer synthetischen Theologie, die Thesen und Antithesen markiert und darstellt und gerade deshalb nicht konsensual erscheinen muss, sondern gelassen um das Zusammenwirken der Unterschiede bemüht ist. Dass daraus Neues und neu zu Vererbendes entsteht, kann auch im Zusammen der Beiträge studiert werden.
In dieser Rezension auf jeden Beitrag mit seinen Erinnerungen, Anregungen und Impulsen einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Schon das ist aber ein Hinweis darauf, dass darin vieles zu finden ist, was ausgewiesene Barth-Kenner herausfordert, theologisch Gebildete an das eigene Studium im Streit um links, rechts oder gar nicht Barth erinnert und das aktuell Studierende der Theologie zu einer aus traditionellen Positionierungen heraus gewonnenen Neugier auf eigene Fragestellungen anregen kann. Dass Karl Barth auch auf eine über Theologie hinausgehende Diskurslage, vor allem aus zeitgeschichtlicher, politischer und gesellschaftlicher Perspektive bis heute Einfluss hat, zeigen die jeweilig aufgeworfenen Auseinandersetzungen in diesem Band.
Entsprechend des Ergebnisses der Tagung wurden die Beiträge in der Veröffentlichung neu sortiert (vgl. Tagungs-Flyer auf www. etf.uni-bonn.de) und drei Feldern zugeordnet, denen eine Einleitung durch die Herausgebenden vorangestellt ist. Damit wird das im Titel wiedergegebene Grundthema lesbar strukturiert, könnte doch sonst der Eindruck einer eher wahllosen Eklektik entstehen.
Ein erstes Kapitel – die Beiträge von Dick Boer, Matthias Gockel, Andreas Krebs, Christian Neddens, Ulrike Sallandt und Jan Štefan sind darin versammelt – führt Konstellationen vor Augen, in die sich Barths Theologie gestellt sieht. Eine Klärung zum Verständnis Schleiermachers darf ebenso wenig fehlen wie Barths frühes und ihn dauernd prägendes Verhältnis zu einem durch die Zeiten hindurch immer wieder neu zu definierenden Sozialismus. Die wenig beachtete altkatholische Barth-Rezeption findet im Zusammenhang mit einer Replik auf politisch-theologische Konstellationen der Nachkriegszeit ihren Platz, vor die sich auch Hans-Joachim Iwand mit Blick auf Barths Theologie gestellt sah. Der Vergleich mit der von Emanuel Lévinas prominent herausgearbeiteten radikalen Relationalität markiert eine weitere Konstellation im Denken Barths, das in philosophisches Fragen hineinführt. Der letzte Beitrag dieses Kapitels geht wieder zum Safenwiler Pfarrer zurück, der in seinen Reden und Predigten nicht zu späteren links- oder rechtsbarthianischen Polarisierungen taugt.
Ein zweiter Abschnitt (Peter Winzeler, Sabine Plonz) zeigt autobiografische Zugänge. Eine mitten in der Zeit der gesellschaftlichen Großdebatten der 70er-Jahre des 20. Jh.s entstandene Dissertation, die Barths Theologie als widerstehend, weil sich positionierend, aber nicht vereinnahmend versteht, wird vom Autor noch einmal gelesen und für in der Sache bleibend aktuell befunden. Der zweite Beitrag verfolgt Lesarten der Theologie Barths nach 1968 in befreiungs- und kontexttheologischer Sicht und zeigt auch da bleibende Aktualitäten auf.
Ein drittes Kapitel (Georg Pfleiderer, Susanne Hennecke, Hans Theodor Goebel, Andreas Pangritz, Cornelia Richter, Petr Gallus) markiert wesentliche Rezeptionen, wobei hier eine Titulierung als Interpretationen treffender gewesen wäre. Jenseits der Möglichkeit liberaler und antiliberaler Lesart wird Barths Dialektik für exis-tenzialtheologische und hermeneutische Fragestellungen geöffnet. Ein weiterer Beitrag fügt die interkulturelle Dimension hinzu. Das in sich differenzierte Gottsein Gottes regt zu einer trinitätstheologischen Relecture im Anschluss an Hans-Georg Geyer an. Eine weitere ethisch-politische Rezeption darf mit einem Beitrag zu Friedrich-Wilhelm Marquard nicht fehlen, ebenso wie ein Hinweis auf die mit Falk Wagner markierte Barth-Kritik der Münchner Schule. Der in diesem Beitrag verwendete Begriff des Narrativs kann zusammen mit dem letzten, auf Ingolf U. Dalferth verweisenden Beitrag als Markierung der inneren Logik des ganzen Bandes herangezogen werden.
Alle Beiträge sind im Grundton der Gottesfrage gehalten, die im Zentrum des Schaffens Karl Barths steht, sei es in ansprechender Predigt, dringender Zeitansage oder akribischer Dogmatik.
Dieser nur scheinbar banale kleinste gemeinsame Nenner des Gesamtwerkes von Karl Barth lässt viele Interpretationsperspektiven zu. Der eine oder die andere wird enttäuscht sein, weil gerade diese oder jene Konstellation, Zugangsweise und Rezeption nicht berücksichtigt wurde und so ein unvollständiges Bild entstanden ist. Auch dass die Beitragenden überwiegend der Enkel- und Urenkelgeneration in der Erbschaftsfolge angehören, mag manchen irritieren. Tatsächlich wirkt manch offen ausgetragenes Theologengefecht, das in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auch von öffentlichem Interesse gewesen ist, in der Darstellung aus zweiter Hand merkwürdig antiquiert, aber auch heilsam distanziert. Neutraler Rezension entgeht dabei auch nicht der Eindruck, dass sich eine gewisse Willkür im weiten Raum, der zwischen Antibarthianismus und Barthianismus aufgespannt ist, abbildet.
Macht man sich aber die lohnenswerte Mühe, den ganzen Band mit seinen unterschiedlichen Beiträgen zu lesen, ergeben die Um-Streitungen einen eigentümlichen Sinn. Man entgeht nicht der Tatsache – und das ist das Mindeste, was ein Sammelband dieser Güte leisten kann –, wie sehr das je eigene Theologietreiben bis ins 21. Jh. hinein in der Erbfolge dieses Monumentaltheologen steht, an dem es sich bleibend konstruktiv, produktiv, narrativ und kritisch abzuarbeiten gilt.
Dass Ingolf U. Dalferth mit einem Zitat zum Anfang – »Karl Barths Theologie ist eine Zumutung« (7) – und mit seiner Barth-Rezeption am Ende des Bandes die Klammer bildet, dürfte nicht zufällig gewählt sein. Seine an Eberhard Jüngel, der – dogmatisch bedauerlich – keine eigene Erwähnung findet, geschulte, eigenständige Theologie zeigt, wie jenseits aller zeitgeschichtlichen Einordung und sich daraus ergebender Streitfragen das dogmatische Erbe nicht zur mehr oder weniger lästigen Bürde wird, sondern in einem realistischen Theologietreiben gut angelegt werden kann. Mit einer solchen Klammer und den dazwischen liegenden Detailfragen liefert der Band einen Beitrag zur dauernden Gültigkeit einer theologischen Streitkultur.