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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

100–102

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Neß, Dietmar

Titel/Untertitel:

Gottesdienst-Räume. Dokumentation zum evangelischen Kirchenbau des 19. und 20. Jahrhunderts in Schlesien. Hg. v. Verein für Schlesische Kirchengeschichte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. XII, 116 S. u. 820 (nicht paginierte) Abb. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783374069385.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der emeritierte Pfarrer und Historiker Dietmar Neß, 1938 in Breslau geboren, hat sich um die statistisch-enzyklopädische Pflege der evangelischen Kirchengeschichte Schlesiens in besonderer Weise verdient gemacht. Nach der Vollendung des von ihm in elf Bänden herausgegebenen Schlesischen Pfarrerbuchs (vgl. ThLZ 140 [2015], 823 f.; 143 [2018], 1037–1039) legte er jüngst den hier anzuzeigenden, eindrücklich opulenten Dokumentationsband vor. Er bietet eine umfassende, Vollständigkeit erstrebende Registrierung des seit Beginn des 19. Jh.s entstandenen evangelischen Kirchenbaus in Schlesien – und damit nicht nur, wie es im rückseitigen Umschlags-text bescheiden heißt, »ein Erinnerungsbuch«, vielmehr zugleich den Vollzug einer höchst verdienstvollen historischen Spurensicherung.
In einer bündigen »Einführung« (V–XII) macht der Vf. mit Ge­genstand und Absicht des Bandes vertraut. Sein Bestreben zielt nicht auf eine professionelle architekturgeschichtliche Fachabhandlung, sondern auf die Vergegenwärtigung der variationsreichen Raumgestaltung, die der schlesische evangelische Kirchenbau im 19. und 20. Jh. hervorgebracht hat. Dass die Dokumentation erst mit dem Jahr 1801 einsetzt, obwohl es in Schlesien natürlich schon seit der Reformationszeit protestantische Gemeinden und Kirchenbauten gegeben hat, wird etwas schmallippig mit »der Notwendigkeit einer Begrenzung des Dargebotenen« (VII) erklärt. Das reichlich präsentierte Bildmaterial kam zumal »durch intensives Bitten und Nachfragen bei den vertriebenen evangelischen Schlesiern« (VII) zusammen. Diese ausdauernde Sammeltätigkeit ist umso verdienstvoller, als die vom Evangelischen Central-Archiv in Breslau seit 1934 institutionell erstellte Bildersammlung im Chaos der letzten Kriegswochen 1945 restlos und auf barbarische Weise (vgl. IX) verloren ging.
Bedeutsam sind darüber hinaus der Hinweis auf die Rosenberger »Pfennigkirche«, deren Bau durch eine vom Ortspastor L. Polko in ganz Preußen durchgeführte Kollekte, die »um Spenden von nur wenigstens einem Pfennig« (X) bat, finanziert werden konnte, so­wie der kontinuitätswahrende Umstand, dass etliche der seit 1801 in Schlesien erstellten Gotteshäuser Inventarstücke aus den Vorgängerkirchen, zumal Altäre, Kanzeln und Orgeln, gelegentlich sogar Emporen, in die Neubauten übernommen haben (vgl. XI).
Für den avisierten zeitlichen und politisch-geographischen Raum lassen sich 514 einschlägige Monumente nachweisen. Diese sind nicht durchweg photographisch dokumentiert. Da aber für etliche Kirchen zwei oder drei, vereinzelt sogar vier Aufnahmen ausgewählt wurden, weist der umfangreiche, nicht paginierte Bildteil die eindrückliche Zahl von 818 Abbildungen auf (hinzu kommen zwei Abbildungen in der Titelei). Diese stammen überwiegend aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s und zeigen insgesamt eine gute, zeitgemäße Qualität. Wer sich in die Tiefen und Details der Bilder versenken möchte, wird mitunter eine Lupe zur Hand nehmen müssen. Die annähernd chronologisch geordneten Abbildungen sind durchnummeriert und lediglich mit dem entsprechenden Ortsnamen versehen; nur bei größeren Städten wie Breslau oder Görlitz wird der Name der jeweiligen Kirche hinzugefügt. Mit der zusätzlichen Angabe, auf welcher Seite des Kommentars sich die Erläuterungen der jeweiligen Kirche finden, würden sich Benutzerin und Benutzer den blätternden Umweg über das Ortsregister erspart haben können.
Tatsächlich lassen erst die auf den Bildteil folgenden »Grunddaten zu den Kirchenräumen« (1–98) das, was zu sehen ist, recht verstehen. Diese gebündelten Erläuterungen benennen jeweils, soweit möglich, das Datum der Grundsteinlegung und Einweihung des Gotteshauses, bieten dazu knappe Hinweise auf Art und Stilrichtung des Bauwerks, auf spätere An- oder Umbauten, gelegentlich auch auf weitere Details wie Baukosten, Architekt oder Stifter, mitunter zudem kurze Quellenzitate, von denen allein der Vf. weiß, woher sie stammen, und, neben allfälligen Quellen- und Literaturhinweisen, nicht zuletzt Angaben zum Schicksal des Gebäudes seit 1945.
Das Letztere hat den Rezensenten zu verschiedenen statistischen Auswertungen angeregt. Dass die meisten der 514 erfassten evangelischen Gotteshäuser Schlesiens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Besitz der polnischen römisch-katholischen Kirche übergingen, wird als Folge des Zeitenlaufs nicht überraschen. Immerhin konnten in 43 Kirchen auch nach 1945 zunächst, oft auf Jahrzehnte, noch evangelische Gottesdienstes gefeiert werden. Herrnhutische, orthodoxe und baptistische Gemeinden übernahmen insgesamt sechs der Gebäude. Gänzlich verschwunden sind, aus unterschiedlichen Gründen, insgesamt 111 Gotteshäuser, darunter die nach Skizzen Friedrich Wilhelms IV. von Friedrich August Stüler errichtete neoromanische Friedenskirche in Karzen, die monumentale, 1904 erbaute Erlöserkirche in Breslau oder das durch Friedrich Wilhelm III. architektonisch angeregte Bethaus in Domanze. Vereinzelt wurden diese Kirchen im Frühjahr 1945 von der zurückweichenden deutschen Wehrmacht, der SS oder dem sogenannten Volkssturm gesprengt. Andere gingen im Kampfgeschehen der letzten Kriegswochen verloren oder wurden nach 1945 ausgeschlachtet, geplündert, verwüstet, niedergebrannt, abgetragen oder dem ruinösen Verfall preisgegeben. Annähernd drei Dutzend der erfassten Gotteshäuser fielen profanisierender Zweckentfremdung anheim und dienten fortan als Warenlager, Museum, Sporthalle, Hufschmiede oder Feuerwehrdepot, als Lebensmittelmarkt, Wohnhaus, Hotel oder, so die 1825 in Habelschwerdt (Kir chenkreis Glatz) errichtete Steinkirche, als Streichholzmuseum (vgl. 10).
Die Entdeckungs- und Erinnerungsfreude wird durch etliche Satzfehler und formale Uneinheitlichkeiten (z. B. mehrfach variierende Schriftgröße oder uneinheitliche Abkürzungen im Erläuterungsteil) nicht ernstlich getrübt. Vielmehr dominiert im Ge­brauch dieses wertvollen historischen Albums die respektvolle Dankbarkeit gegenüber dem Vf., dem es in eindrucksvoller Weise gelungen ist, der untergegangenen schlesischen Kirchenprovinz ein unvergängliches Denkmal zu setzen. Darum tolle, vide, lege!