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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

98–100

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Naumann, Martin

Titel/Untertitel:

»Terrorbrecher Christus« und IM »Bruder«. Bischof Hans-Joachim Fränkel (1909–1996).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 405 S. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 78. Geb. EUR 100,00. ISBN 9783525564936.

Rezensent:

Roland M. Lehmann

Als Bischof des Görlitzer Kirchengebiets wirkte er von 1964 bis 1979. Auf kirchenleitender Ebene zählt er zu den schärfsten Kritikern der DDR. Gemeint ist Hans-Joachim Fränkel (1909–1996). Den Höhepunkt seines Konfrontationskurses bildete der Vortrag in der Dresdner Annenkirche im November 1973. Dort nannte er Christus einen »Terrorbrecher«, dessen Macht sich auch gegen den DDR-Staat richte. Nach dem Dresdner Vortrag waren seine Äußerungen jedoch von einer merkwürdigen Zurückhaltung geprägt. In der Forschung wurde dieser vermeintliche Wechsel von einem Konfrontations- hin zu einem Anpassungskurs als die sogenannte »Fränkelsche Wende« bezeichnet.
In einer Dissertationsschrift, die von Klaus Fitschen betreut wurde, widmet sich Martin Naumann ausführlich dieser bedeutenden Persönlichkeit der DDR-Kirchengeschichte und konzentriert sich auf dessen Kirchenpolitik. Dabei orientiert sich N. an vier Konfliktfeldern: das Verhältnis zwischen Fränkel und dem Staat, zwischen ihm und der Kirche, zwischen der Kirche und dem Staat im Allgemeinen und zwischen den Landeskirchen untereinander (16).
Nach einem biographischen Überblick zum Werdegang Fränkels nimmt die Studie ihren Ausgangspunkt in der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei liegt der Fokus auf dem sogenannten »Kirchenkampf« der schlesischen Kirche. Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche prägten Fränkels kirchenpolitisches Verständnis nachhaltig. Insbesondere die Spaltung der schlesischen BK in einen gemäßigten »Naumburger am Quais«-Flügel und dem radikaleren »Christopheri«-Flügel (48), dem sich Fränkel anschloss, führte zu Fränkels rigoroser Orientierung an der Barmer Theologischen Erklärung, auch zur Zeit des Wiederaufbaus nach Kriegsende (75).
Im Kreuzfeuer der SED-Kritik stand der damalige Oberkirchenrat, als er sich auf der EKD-Synode in Berlin-Weißensee im April 1958 zu Wort meldete (83 f.). Seine Klage über den Lärm der staatlich organisierten Demonstrationen vor dem Tagungsgebäude, die ihm zufolge an Terror grenzen würden, wurde von staatlicher Seite so aufgefasst, als übten die Auffassungen der DDR-Bürger und damit die gesamte DDR-Staatsführung Terror aus. Seine Anfrage, ob die Synode unter diesen Bedingungen überhaupt noch weiter tagen könne, wurde zur Forderung auf eine Verlegung der Synode nach W estberlin verunglimpft. Hinzu kamen weitere Anschuldigungen, beispielsweise Fränkel sei für die atomare Bewaffnung und den »Atomtod« für das deutsche Volk gewesen (89 f.92). Solche Diffamierungen erfolgten durch staatlich initiierte Flugblatt- und Unterschriftsaktionen (92.94), durch Ausübung von Druck auf Jugendliche, sich gegen Fränkel zu äußern, und durch Entlassung unliebsamer Lehrer, die den vermeintlichen »Neofaschisten« (97) unterstützten.
Während das SED-Regime den Görlitzer Bischof noch zur Gruppe reaktionärer Bischöfe zählte, galt er ab 1968 als persona non grata (16.147 f.360 u. a.). Dies veranschaulicht N. in einem weiteren Kapitel an drei Ereignissen: den Verhandlungen um die Namensveränderung der »Evangelische[n] Kirche von Schlesien« in die »Evangelische Kirche des Görlitzer Kirchengebiets«, die Fränkel früher ablehnte, aber aufgrund des staatlichen Drucks dann mit einführte (112 f.116), an der Kritik Fränkels an der neuen sozialistischen Verfassung der DDR (133 f.) und an seinem Brief an Walter Ulbricht anlässlich des »Prager Frühlings« (146).
Danach wendet N. seinen Blick auf die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Während Fränkel noch 1967 am Bestehen der sowohl geistlichen als auch organisatorischen Einheit der EKD festhielt, votierte er zwei Jahre später für die Gründung eines Bundes der DDR-Kirchen. Zum einen spielten pragmatische Gründe eine Rolle, da die organisatorische Trennung zwischen West- und Ostkirche aufgrund der staatlichen Verhinderungspolitik weit fortgeschritten war; zum anderen beeinflussten andere leitende Geistliche wie Albrecht Schönherr seine Sichtweise (183).
Nach der Untersuchung dieser kirchenpolitischen Debatten konzentriert sich N. in den nächsten beiden Kapiteln stärker auf das theologische Denken Fränkels. Zunächst steht dessen Positionierung zur Formel »Kirche im Sozialismus« im Zentrum der Betrachtung. N. zufolge bejaht Fränkel die Formel, betont dabei jedoch, Evangelium und Sozialismus stünden sich nicht gegenüber wie eine Ideologie zu einer anderen Antiideologie (194). Kirche müsse nicht gegen den Sozialismus sein, dürfe aber auch nicht unter ihm stehen oder in seinem Geist agieren (195.200). Dabei be­fürworte Fränkel das »Wächteramt der Kirche«, das er als theologische Chiffre für die kirchliche Verantwortung für die Öffentlichkeit verwendet (204).
In einem weiteren Kapitel geht es um Fränkels spezifisches Verständnis der Menschenrechte, erläutert an den Diskriminierungen im Bildungsbereich und im Schulwesen (224) und an Fränkels Deutung des Antirassismusprogramms des ÖRK. Dabei sei auffallend, dass Fränkel bis in die 1970er Jahre hinein die Verletzungen der Menschenrechte in der DDR angriff, dann aber dieses Thema in den Hintergrund rückte. Außerdem beharrte der Görlitzer Bischof zu­nächst stärker auf der Einhaltung der Individualrechte gegenüber den Gemeinschaftsrechten. Nach Abschluss der KSZE-Schlussakte sah Fränkel jedoch die Individualrechte durch die Einigung der West- und Ostblockstaaten als international gesichert an (239 f.).
Im vorletzten Hauptkapitel widmet sich N. der Isolation Fränkels durch staatliche Stellen in den Jahren 1970–1973. Die Repressionen erfolgten durch Gespräche mit anderen Würdenträgern, dem Entzug von Privilegien wie Reisen ins Ausland, dem Verbot ausländischer Gäste auf dem Görlitzer Kirchengebiet und die Ablehnungen der Vergabe von Wohnraum an die Geistlichen innerhalb der Stadt Görlitz (245). Fränkel reagierte darauf durch schärfer werdende Kritik. Höhepunkt war der bereits erwähnte Vortrag in der Dresdner Annenkirche 1973. Dort fragte er nach dem Ertrag des Kirchenkampfes in den 1930er Jahren für die heutige Z eit, womit er implizit den Terror des Nationalsozialismus mit dem der DDR parallelisierte. So bliebe nur der einzige Trost in Christus als »Terrorbrecher«.
Das letzte Kapitel widmet sich der »Fränkelschen Wende« in den Jahren 1975–1977. N. analysiert die verschiedenen Deutungen der Verhaltensänderung Fränkels (319). N. kommt zum Ergebnis, dass keine monokausale Erklärung gegeben werden könne, sondern es sich vielmehr um eine Gemengelage verschiedener Gründe han-dele. Dazu zähle der staatliche Druck von außen, aber auch der innerkirchliche Druck durch leitende Geistliche sowie der Ab­schluss der KSZE-Verhandlungen im Jahr 1973, die sich im Vertrag von Helsinki niederschlugen, in dem sich die Staaten des Warschauer Paktes zur Glaubens- und Gewissensfreiheit bekannten (363 f.). Dabei geht N. davon aus, dass Fränkel zwar seine inhaltlichen Positionen beibehielt, jedoch bewusst die Strategie veränderte, indem er bei öffentlichen Auftritten einen kooperativeren Ton anschlug. So erklärte er sich am 13. Oktober 1977 dazu bereit, Gespräche mit dem MfS-Offizier Horst Babucke in seiner Wohnung zu führen. Deshalb erhielt Fränkel den Decknamen IM »Bruder«. Dabei wich er vom Verhaltenskodex ab, den er seinen eigenen Mitarbeitern empfahl, nämlich den Vorgesetzten über die Gespräche zu informieren und dafür zu sorgen, dass mindestens ein zusätzlicher Vertreter am Gespräch teilnehme (343). Im Rückblick räumte Fränkel diese Gespräche ein, verneinte aber zugleich eine konspirative Zusammenarbeit, da es sich seinen Angaben zufolge bei den insgesamt 14 Treffen eher um einen Meinungsaustausch über allgemeine Themen handelte. Als man ihm 1978 die Verleihung eines Ordens anbot, lehnte er ab.
Insgesamt legt N. eine beeindruckende und perspektivenreiche Monographie vor. Er versteht es, die Zusammenhänge packend und sachkundig zu schildern. Wer ein skandalöses Enthüllungsbuch erwartet, der wird jedoch nicht auf seine Kosten kommen. Die Ergebnisse insbesondere zur »Fränkelschen Wende« bilden mehr eine Zusammenfassung der bereits vorhandenen Forschungsmeinungen als eine Neubewertung. Doch die Konzeption des Buches, zum einen die Person Fränkels und zum anderen die Geschichte der Görlitzer Landeskirche darzustellen, ist genau das, was die Forschung zur Kirchengeschichte der DDR m. E. benötigt: zum einen weitere Einzelbiographien kirchengeschichtlich wichtiger Persönlichkeiten in der DDR und zum anderen die Ausdifferenzierung der DDR-Kirchengeschichte aus der Perspektive der einzelnen Landeskirchen. N. hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet.