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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

96–98

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Lepp, Claudia [Hg.]

Titel/Untertitel:

Christliche Willkommenskultur? Die Integration von Migranten als Handlungsfeld christlicher Akteure nach 1945.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 332 S. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B, 75. Geb. EUR 65,00. ISBN 9783525540763.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Der jüngste Höhepunkt der Migrationsbewegungen nach Mitteleuropa in den Jahren 2015/16 wird nicht nur von der Systematischen und Praktischen Theologie in den Blick genommen, auch die Kirchengeschichte hat die Herausforderung erkannt. So versammelte eine Tagung im Herbst 2019 in München Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Disziplinen, um den kirchlichen Beitrag zur Integration von Heimatvertriebenen, Arbeitsmigranten, Asylbewerbern und Flüchtlingen von den 1940er Jahren bis zur Gegenwart zu untersuchen. Die Vorträge liegen nun im Druck vor, ergänzt um einen Beitrag über das Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland und zwei Kommentare. Im Mittelpunkt steht der westdeutsche Protestantismus, es gibt aber auch Seitenblicke auf den Nachkriegskatholizismus sowie auf die Tschechoslowakei und die Schweiz. Die DDR, die ja auch Zielland von Migration war, bleibt ausgespart.
Die Beiträge sind drei Themenkomplexen zugeordnet, die zu­gleich auch die drei Etappen der westdeutschen Migrationsgeschichte repräsentieren. In den ersten drei Beiträgen geht es um die Eingliederung von Heimatvertriebenen in den 1950er und 1960er Jahren. Felix Teucherts Ausführungen zum Agieren evangelischer Politiker in der Vertriebenenpolitik der frühen Bundesrepublik basieren auf seiner 2018 publizierten Dissertation. Ebenfalls auf einer bereits publizierten Dissertation beruhen Markus Stadtrechters Hinweise zu den Schwierigkeiten bei der Integration katholischer Vertriebener in die Kirche im Bistum Augsburg. Einen interessanten Vergleichsfall nimmt Romana Fojtová in den Blick: Am Beispiel der aus der Ukraine und Polen in die ČSSR zurückkehrenden tschechischen Exilanten evangelischen Glaubens zeigt sie, wie deren Integration vor sich ging und wie die Rückkehrer ihr kirchliches Leben organisierten.
Die darauffolgenden vier Beiträge richten den Blick auf den Umgang mit Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik Deutschland von den 1960er bis zu den 1980er Jahren. Claudia Lepps perspektivenreicher Überblicksbeitrag zum »Beitrag des Protestan-tismus zu Fragen der Integration und Arbeitsmigration« macht deutlich, dass die evangelische Kirche der Bundesrepublik einen wichtigen Beitrag zu einer anderen Wahrnehmung der »Gastarbeiter« leistete, indem sie ihnen als »Mitbürgern« ein Heimatrecht in der Bundesrepublik zusprach und die Vorstellung der multikulturellen Gesellschaft in die Diskussion einführte. Dass die kirchliche Unterstützung der Arbeitsmigranten diese aber nicht nur aufwertete, sondern auch in sozialpaternalistischen Mustern befangen war, macht Uwe Kaminsky am Beispiel der vom westdeutschen Protestantismus organisierten Unterstützung griechischer »Gastarbeiter« deutlich. Während die Eingliederung dieser Gruppe gut gelang, auch weil parallel die griechisch-orthodoxe Kirche ihre Strukturen ausbaute, spielte für die in evangelischen Krankenhäusern tätigen südkoreanischen Krankenschwestern Religion nur eine Nebenrolle, wie Norbert Friedrich zeigt. Dass die Kirchen auch den Kontakt zu den Muslimen suchten, wenn anfangs auch nur zögerlich, belegt David Rüschenschmidts Überblick über den christlich-islamischen Dialog in den 1970er und 1980er Jahren in Nordrhein-Westfalen.
Weitere vier Beiträge behandeln die Aufnahme ausländischer Flüchtlinge von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart. Jonathan Spanos’einleitender Überblick über die kirchlichen »Debatten um die Aufnahme und Anerkennung politischer Flüchtlinge« im westdeutschen Protestantismus geht bis in die Nachkriegszeit zurück, als der Umgang mit den DDR-Flüchtlingen im Fokus stand, und vollzieht nach, wie sich durch neue Herausforderungen nach und nach die Diskussion veränderte. Zu diesen Herausforderungen zählt unter anderem die durch den Pinochet-Putsch ausgelöste Fluchtwelle aus Chile 1973, durch die der dort wirkende evangelische Pfarrer Helmut Frenz zu seinem sein weiteres Leben bestimmenden Engagement für politisch Verfolgte kam, das auch auf die kirchlichen Debatten in Westdeutschland wirkte, wovon Daniel Lenski erzählt. Wie das Kirchenasyl seit den 1980er Jahren als neue Form kirchlichen Engagements für Flüchtlinge aufkam und be­gründet wurde, zeigen in einem eher handbuchartigen Beitrag Matthias Morgenstern für Deutschland und in einem eher essay-istischen Beitrag Jonathan Pärli für die Schweiz.
Abgeschlossen wird die Reihe der Beiträge durch Arnulf von Schelihas historische und systematische Untersuchung zu »Migration und Integration als Thema der protestantischen Sozialethik in der Bundesrepublik Deutschland«, die in die aktuellen Diskussionen zum Thema hineinführt und vorschlägt, die reformatorische Zweireichelehre für die theologische Reflexion der Herausforderungen durch die Migration nutzbar zu machen. Die beiden Schlusskommentare bieten wertvolle Hinweise: Jürgen Micksch ergänzt und korrigiert aus der Sicht des lange Jahre in der kirchlichen Ausländerarbeit engagierten Zeitzeugen manche Beiträge des Bandes, und Christiane Kuller entwickelt aus der Lektüre der Beiträge weiterführende Überlegungen aus der Sicht der Geschichtswissenschaft.
Wie die Herausgeberin in ihrer Einführung deutlich macht, steht der Band in engem Zusammenhang mit der Debatte um die Willkommenskultur in den Jahren 2015/16. Der Blick zurück auf 70 Jahre Mitgestaltung von Migration durch »christliche Akteure« lässt es nach Meinung der Herausgeberin geraten erscheinen, die Rede von der »christlichen Willkommenskultur« mit einem Fragezeichen zu versehen. In der Tat stehen die Worte und Taten, mit denen Christen 2015/16 ihren Glauben gegenüber Flüchtlingen bezeugten, nicht ohne Weiteres in einer Tradition. Vertreibung, Flucht und Migration wurden erst nach und nach als Herausforderung begriffen, und die praktische Bewältigung und die theologische Reflexion entwickelten sich nur langsam. Es ist kein Zufall, dass in vielen Beiträgen des Bandes die religiöse Dimension der »Integration von Migranten« nur am Rande vorkommt und dass der Untertitel recht allgemein von »christliche[n] Akteure[n]« spricht. Gerade was die letzten Jahrzehnte angeht, hat die Forschung hier noch viel zu tun. Um voranzukommen, muss sie sich von der Selbstwahrnehmung der Akteure emanzipieren und dieses wichtige Thema sine ira et studio untersuchen. Dazu gehört auch, die innerkirchliche Diskussion in ihrer ganzen Breite in den Blick zu nehmen und die Frage zu stellen, ob und inwieweit das Engagement für Vertriebene, Migranten und Flüchtlinge tatsächlich religiös motiviert war.
Der Band ist ein hilfreicher Begleiter für die weitere Forschung und trägt dazu bei, die Diskussion über Migration in Kirche und Gesellschaft zu versachlichen.