Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

95–96

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Benedict, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Beschädigte Versöhnung. Die Folgen des Versagens der Kirchen in der Nazizeit.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2020. 192 S. = Theologische Orientierungen, 39. Kart. EUR 19,90. ISBN 9783643146168.

Rezensent:

Carsten Linden

Dass der Autor als emeritierter Pastor, Professor und Fernsehprediger in textlicher Darstellung sehr geübt ist, merkt man dem Buch an und macht es gut lesbar. Hans-Jürgen Benedict selbst bezeichnet sein Buch als »Essay« (156). Der Text lässt sich ebenso als gefällige Lektüre wie wissenschaftliches Werk verstehen, was sein durchgehender Bezug auf anerkannte Literatur zeigt. Die leitende Frage ist das Verhältnis von Christen und Juden der Vergangenheit, besonders in der NS-Zeit, und davon ausgehend eine Begründung des heutigen und zukünftigen Existierens von Kirche.
Diese theologisch-zeitgeschichtliche Betrachtung ist in zwei Hauptkapitel geteilt. Thema des ersten Hauptkapitels ist die Schuld der Kirchen gegen die Juden besonders in der NS-Zeit (»Erster Teil: Der christliche Antijudaismus und das Versagen der Kirche in der Judenfrage im Nationalsozialismus«, 5–105). Im zweiten Hauptkapitel entrollt und konkretisiert B., was dies für Kirche heute bedeutet und bedeuten sollte (»Zweiter Teil: Rettung der Schöpfung, Bewahrung der Kirche und weitergehender Christus-Trost«, 107–172).
Inhaltlich untersucht B. im ersten Hauptkapitel verschiedene Autoren unter dem Aspekt, wie diese zu den Juden standen. Sein Fokus liegt darauf darzustellen, wie das Verhältnis von Christen und Juden früher bewertet wurde. Hierbei wird B. in seiner Zustimmung oder Ablehnung durchgehend sehr deutlich. So erkennt er bei Luther die »reformatorische Entdeckung« (27) an, betont jedoch auch dessen »gleichzeitige Verwerfung der Juden« (27). Nahe steht ihm Bonhoeffer, bei dem er den Versuch erkennt, das Verhalten der Christen gegen die Juden zum Kriterium der Nähe Gottes zu den Christen zu machen (vgl. 56). Das führt ihn zu der Frage, ob »der Antijudaismus ein Irrweg oder […] ein Grundzug westlichen Denkens« (22) sei. Hierzu zieht er eine Studie heran, wonach »Distanzierung vom Judentum ein vitaler Kern des west-lichen Weltbildes« (22–23) sei. Die Möglichkeit, Antijudaismus in der Kirchengeschichte als sporadische »Entgleisungen« zu werten, lehnt B. ab, er sei vielmehr »typisch für die Einstellung des Chris-tentums« (22). Die Verfolgung der Juden in der NS-Zeit identifiziert er daher »als Infragestellung des Versöhnungsgeschehens« (49). An drei Beispielen zum »Versagen der Kirche« (88) führt er die grundsätzliche Bedeutung dieses Versagens weiter aus.
Schwerer zu fassen ist das zweite Hauptkapitel des Buchs, weil eine explizite Zielformulierung unscharf bleibt, also aus der Ausführung zu erschließen ist. B. geht davon aus, dass eine »fast 2000 Jahre lange Epoche antijüdischer Einstellung der Kirchen« (107) einer grundsätzlichen Erneuerung bedürfe. Die Ausführungen sind eine meist genauer ausgeführte Sammlung von aus B.s Sicht guten Erscheinungen, weniger in der Kirche als vielmehr in der Gesellschaft, wie etwa der neu bewerteten Wahrnehmung von Herkömmlichem: Klimawandel, Umgang mit Flüchtlingen, Staatskirchenrecht, Burkinis muslimischer Mädchen und überhaupt religiöse und ethnische Vielfalt. Nicht nur Kirche, sondern sogar Glaube finden kaum Beachtung. Vielmehr erkennt B. für den Einzelnen »Gottes- und Christusglaube als Umweg zur Mitmenschlichkeit« (140) und im Blick auf Gesellschaft erachtet er »Super-diversität« (149) als wünschenswert. Die Bedeutung der Kirche als gesellschaftlicher Größe sieht er in ihrem »Engagement auf sozialem und politischem Gebiet« (152). B. verwendet seine Einsicht des ersten Teils, dass die Kirche in Blick auf die Juden zumindest in der NS-Zeit, eigentlich aber schon immer, versagt habe, als normatives Argument zur Begründung seiner im zweiten Teil entrollten Sicht auf die Gesellschaft. Seine Thematisierungen und Bewertungen entsprechen hierbei wohl der Stimmung der Mehrheit der Chris-ten Mitteleuropas im Erscheinungsjahr des Essays. Tatsächlich las sich das zweite Hauptkapitel für den Rezensenten wie ein Katechismus der Gegenwart.
Es darf erinnert werden, dass B. Teilnehmer der legendären Celler Konferenz jüngerer Theologen der Jahre 1968/69 war, wo schon eine Rede aufkam, die zeitnah und zutreffend als »Gesellschaftstheologie« (Reimar Lenz) bewertet wurde. Inwiefern sich die Ge­danken im zweiten Teil des vorliegenden Buchs von damaligen Ideen abheben ist, sieht man vom mittlerweile weggefallenen Sozialismusbezug ab, bleibt unklar.