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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

92–94

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Posset, Franz

Titel/Untertitel:

Respect for the Jews. Collected Works, Vol. 4. Foreword by Y. Deutsch.

Verlag:

Eugene: Wipf & Stock Publishers 2019. XV, 290 S. m. 101 Abb. Kart. US$ 36,00. ISBN 9781532670909.

Rezensent:

Matthias Dall’Asta

Die unter dem Motto »Respect for the Jews« versammelten acht Beiträge (»Chapter« 1–8) des deutsch-amerikanischen, katholischen Kirchenhistorikers Franz Posset, der durch zahlreiche Monographien (u. a. zu Johann von Staupitz und Martin Luther) als Experte für die Theologie der Reformationszeit ausgewiesen ist, gehen zumeist auf Vorträge zurück, die in den Jahren 2014–2018 auf Kongressen in den USA (Kapitel 1, 4 und 5), Breslau (Kapitel 2 und 3) und Uppsala (Kapitel 8) gehalten wurden. Zusammen mit einem bereits 2010 in den Studies in Christian-Jewish Relations publizierten Aufsatz zu Reuchlins Tütsch missive von 1505 (Kapitel 7) und einer Untersuchung zu sechs 1500–1514 erschienenen Drucken mit he­bräischen Übersetzungen christlicher Gebete und Glaubenstexte (Kapitel 6) kreisen alle diese Beiträge um die Judenbilder christ-licher Philologen, Theologen und Publizisten der Frühen Neuzeit. Vor dem dunklen Hintergrund des aus dem Mittelalter über-kommenen Antijudaismus und den judenfeindlichen Pamphleten Luthers geht es P. hierbei dezidiert um Zeugnisse einer positiven, von Respekt geprägten Einstellung gegenüber dem Judentum. Ein nachdenkliches kurzes Schlusswort (»Chapter« 9; 271 f.), die Bibliographie und zwei Indizes (Personen und Bibelstellen) beschließen den Band. Die Studien sind durchweg lebendig geschrieben und stehen zeitlich und thematisch in engem Zusammenhang mit P.s mo­numentaler Reuchlin-Biographie, die 2015 unter dem Titel Johann Reuchlin (1455–1522). A Theological Biography erschienen ist.
Das anregende Buch lässt sich insgesamt als eine große Spurensuche beschreiben, die nach einer instruktiven Einleitung (1–16) in Kapitel 1 bei einer hebräischen Bibelhandschrift der Biblioteca Me­dicea Laurenziana (Ms. Conv. Sopp. 268) beginnt. Dieser aufwendig verzierte Kodex stammt aus dem Kloster San Domenico in Fiesole bei Florenz, wurde im 15. Jh. geschrieben und ist auf der ersten Seite mit einer Kreuzigungsszene geschmückt, die von zwei anbetenden Heiligen flankiert wird. In einer alten Beischrift werden diese Figuren als Dominicus und Thomas von Aquin bezeichnet; P. identifiziert den rechten Heiligen unter Verweis auf das Motiv des Amplexus Bernardi jedoch überzeugend als Bernhard von Clairvaux. Ob die in monastischem Kontext verortete hebräische Handschrift womöglich als Instrument der Judenmission dienen sollte oder mit dem Florentiner Kreis um Giovanni Pico della Mirandola in Verbindung stehen könnte, lässt sich jedoch einstweilen nur vermuten und wird von P. in Form von »Open Ques-tions« (26–28) in den Raum gestellt.
Kapitel 2 und 3 beschäftigen sich mit dem Juristen und christlichen Kabbalisten Joh. Reuchlin, seinen hebraistischen Werken und seinem Engagement für die Bewahrung der jüdischen Literatur in ihrer ganzen Breite, den Talmud eingeschlossen. Durch sein 1511 im Augenspiegel veröffentlichtes Gutachten zu den damals von der Vernichtung bedrohten Büchern der Juden und durch den diesbezüglich in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Streit mit den Kölner Dominikanern und dem antijüdischen Publizisten Joh. Pfefferkorn wurde Reuchlin schon zu Lebzeiten zu einer Ikone des deutschen Humanismus. Postum hat Georg Witzel ihn in seiner 1534 in Leipzig gedruckten Oratio in laudem Hebraicae linguae als einen noch immer weltweit bekannten, machtvollen Beschützer dieser bedrängten Sprache gepriesen (36.186 f.).
In Kapitel 4 wird die auch sonst bemerkenswerte lateinische Rede Witzels genauer kontextualisiert und mit Reden von Matthäus Adriani (1520), Robert Wakefield (1524/1528) und Nikolaus Wynmann (1538) verglichen (83–107) und anschließend durch eine englische Übersetzung mit kommentierenden Fußnoten erschlossen (108–197). P.s gelungener Übersetzung (geradezu poetisch seine Wiedergabe von »zabulus in tenebrarum factis« mit »devil in deeds done in darkness«, 144 f.) sind Faksimiles der 45 Seiten eines Leipziger Nachdrucks der Rede (von 1538: VD 16, W 3988; Bl. D8b–G6b) gegenübergestellt, so dass somit erstmals eine zweisprachige Ausgabe dieses nicht unwichtigen Textes vorliegt.
Besonders ansprechend ist das letzte Drittel des Buches. Zu­nächst geht es um Luthers Tischgespräche, in denen P. Abwandlungen eines Aphorismus untersucht, der insbesondere durch Reuchlin bekannt geworden ist: »Die Hebräer trinken aus den Quellen, die Griechen aus den Bächen und die Lateiner aus dem Sumpf« (Kapitel 5). Mit der folgenden Untersuchung (Kapitel 6) zu den frühen Drucken christlicher Gebete und Glaubenstexte in hebräischer Übersetzung (von Aldo Manuzio, 1500, über Nikolaus Marschalk, François Tissard, Joh. Pfefferkorn, Matthäus Adriani zu Joh. Böschenstein, 1514) betritt P. weitgehend Neuland. Hinter die Aussage, dass Tissard seine 1508 in Paris gedruckte Hebräische Grammatik »apparently« ohne Kenntnis von Reuchlins Rudimenta Hebraica von 1506 verfasst hat (219), sollte man ein Fragezeichen setzen, denn die bei Tissard auf Bl. I 1a–3b gedruckte zweisprachige Genealogie Mariens ist keineswegs »a unique feature« (220), sondern sie findet sich als Leseübung bereits in Reuchlins Rudimenta Hebraica (dort 19 f.) und später in nuce auch in Böschensteins Hebraicae grammaticae institutiones von 1518 (dort Bl. B 1b–2b, aber nach der lateinischen Überschrift kurioserweise einfach mit zwei leeren Seiten zum handschriftlichen Eintrag der hebräischen Namen, da damals in Wittenberg noch keine hebräischen Drucktypen zur Verfügung standen).
Die in Kapitel 7 vorgetragene Interpretation von Reuchlins Tütsch missive (»In Search of an Explanation for the Suffering of the Jews«; 236–251) bürstet diesen 1505 gedruckten Offenen Brief gleichsam gegen den Strich: Es handle sich nicht um einen konventionell-antijüdischen Text, sondern eher um ein Beispiel von »philosemitism« (237); Reuchlin biete in diesem Text lediglich »talking points« (239 f. u. ö.) an, mache den Juden also Gesprächsangebote. Dieser Interpretation, die schon in P.s eingangs er-wähnte Reuchlin-Biographie (dort 237–251) eingeflossen ist, wurde bereits mehrfach widersprochen; vgl. etwa Jan-Hendryk de Boer, Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlin-Konflikts, Tü­bingen 2016, 396: »Hier mit Posset von einem insgesamt philosemitischen Text zu sprechen, der einen Religionsdialog mit den Juden eröffnen wollte, ist Wunschdenken.« Eine überzeugende Erklärung der spürbaren Diskrepanz zwischen Reuchlins Tütsch missive und den viel judenfreundlicheren Positionen in seinen übrigen Schriften (besonders im Augenspiegel) steht somit weiterhin zur Debatte. Diese Diskrepanz hatte bereits Reuchlins Kontrahent Pfefferkorn verspürt, dessen schillernder Figur Kapitel 8 gewidmet ist (»In Search of the Historical Pfefferkorn«; 252–270). Auch dieser Beitrag ist hochwillkommen, da er die traditionellen Pfefferkorn-Bilder kritisch hinterfragt, allen voran die mit antisemitischen Versatzstücken durchsetzten Polemiken aus Reuchlins Anhängerschaft im Judenbücherstreit, die in dem Konvertiten häufig nur den ungebildeten und verräterischen »Halbjuden« sah. Mit seiner Einschätzung, dass eine kritische Biographie Pfefferkorns ein Forschungsdesiderat darstellt (270), hat P. zweifellos recht.
Der »Geburtsfehler des Protestantismus« in Form von Luthers Judenfeindschaft (vgl. 8 und 84 unter Verweis auf Klaus Wengst) bleibt für den Katholiken P. trotz seines Einsatzes für die Ökumene ein steter Stein des Anstoßes. Sein anregendes Buch führt den Leser auf zum Teil noch wenig begangenen Wegen durch die Jahrzehnte um 1500 und macht deutlich, dass der vorherrschende Antijudaismus schon damals keineswegs alternativlos war.