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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

88–91

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Roland M.

Titel/Untertitel:

Reformation auf der Kanzel. Martin Luther als Reiseprediger.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XVI, 615 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 199. Lw. EUR 124,00. ISBN 9783161596902.

Rezensent:

Martin Ohst

Dass die Reformation als Medienrevolution verstanden werden muss, ist mittlerweile allgemein bekannt: Es waren Flugschriften, welche die innovativen Impulse aus dem randständigen Wittenberg in die weite Welt hinaustrugen, und es waren Bücher wie die neu übersetzte Bibel, Postillen und Katechismen, die ihre dauerhafte Wirkung durch Predigt und Unterricht eines sehr schnell von Grund auf erneuerten Pfarrerstandes institutionalisierten und auf Dauer stellten. Flugschrift und Buch sowie die formal und inhaltlich durchgreifend erneuerte regelmäßige Pfarrpredigt übernahmen damit Funktionen, welche zuvor seit dem 11. Jh. die zunächst spontan-charismatische, mit der Gründung der Bettelorden regulierte und professionalisierte Wanderpredigt erfüllt hatte. Mit dem p rofessionellen Ablass-, d. h. Wanderprediger Johann Tetzel trat gegen den gerade zum Virtuosen der Flugschriften-Publizistik werdenden Martin Luther also auch der Exponent des alten kommunikationsgeschichtlichen Zeitalters gegen den Protagonisten des neuen in die Schranken.
Nun lösen geschichtliche Zeitalter einander nicht einfach ab­rupt ab, und so gab es auch in der reformatorischen Bewegung, vor allem in ihren dissentierenden Seitenzweigen, Phänomene, in denen die mittelalterliche Wanderpredigt sich fortsetzte. Dass auch Martin Luther am Fortwirken dieser Traditionen teilhatte, zeigt Roland M. Lehmann in seiner Jenaer Habilitationsschrift. Sie präsentiert Luther als Prediger, aber nicht in seiner den reformatorischen Umbruch überdauernden Rolle als Wittenberger Prädik ant, der zuweilen auch vertretungsweise für den Stadtpfarrer einsprang, sondern sie geht seiner Predigttätigkeit außerhalb Wit-tenbergs und deren literarischen Niederschlägen nach. Nach einer forschungsgeschichtlichen und methodologischen Einleitung (1–34) und einer »Hinführung« (35–91), die pointiert die Dokumente von Luthers ersten Gehversuchen als Prediger in den Jahren zwischen 1511 und 1518 vorführt, präsentiert er in sieben Kapiteln ganz unterschiedliche Facetten von Luthers Predigttätigkeit, deren Gemeinsamkeit lediglich darin liegt, dass ihr Schauplatz nicht Wittenberg war: Luthers Predigt während der Leipziger Disputation 1519 (93–121), eine Predigtkampagne im April/Mai 1522 (123–167), durch persönliche Beziehungen motivierte »Gastpredigten« Luthers in Kemberg zwischen 1519 und 1537 (169–228), Predigten an fürst-lichen Residenzorten (Weimar, Wörlitz, Leipzig; 229–294) und die Predigten auf der Veste Coburg während des Augsburger Reichs-tages (295–345). Ganz disparate Stoffe, nämlich Kasualreden sowie die kirchenpolitisch hochbrisante Ansprache bei der Einführung Amsdorfs als Naumburger Bischof und die wegen der »Torgauer Formel« weit bekannte Predigt bei der Einweihung der Torgauer Schlosskapelle 1544 führt das Kapitel »Luther als Kasualprediger« (347–450) vor. Das letzte Glied der Reihe bildet die Interpretation von Luthers Predigttätigkeit auf seiner letzten Reise zu Jahresbeginn 1546 (451–490).
Die Einzelkapitel sind alle nach demselben Schema gegliedert: Nach einem Blick auf die Forschungslage wird der jeweilige lokale bzw. regionale Kontext von Luthers Predigten geschildert. Was L. hier in mühsamster Detailarbeit an Informationen zusammengetragen hat (vgl. z. B. zu Kemberg 171 ff. und zur Grafschaft Mansfeld bzw. Eisleben 452 ff.), ist bewunderungswürdig; der Nutzen für das Verständnis von Luthers Predigten bleibt allerdings bisweilen überschaubar: So interessant es ist, dass der Ortsname »Kemberg« auf Cambrai/Kamerijk zurückgeht – man hätte Luthers dortige Predigten auch ohne diese Information verstanden. Es folgen mustergültig präzise überlieferungs-, text- und druckgeschichtliche Untersuchungen der jeweiligen Predigten, und hieran schließt sich die analysierende Paraphrase an. Jedes Kapitel endet, wie dann auch die ganze Untersuchung, mit einer zusammenfassenden Ertragssicherung. Der Nutzen der im Anhang dokumentierten Listenweisheit (515–525) hat sich mir nicht erschlossen, aber da wird es anderen Lesern vielleicht anders ergehen. Der schönste unter den (leider auch den Genuss an den lateinischen Zitaten in den Fußnoten zu häufig störenden) Druckfehlern macht aus dem Augsburger Reichstag von 1530 einen »Parteitag« (328).
Wie gesagt: Das Material, das L. unter dem Sammelbegriff »Reisepredigten« subsumiert, ist ausgesprochen disparat. Der mittelalterlichen Wanderpredigt am nächsten kommt wohl eine regelrechte Predigtkampagne, die Luther im Frühjahr 1522 in mehrere kursächsische Städte führte. Wie ein reisender Star-Prediger aus dem Franziskanerorden hielt sich Luther offenbar nicht an die ortsüblichen Gottesdienstzeiten, sondern predigte, wie es sich ergab, und zwar vormittags über Themen der Lehre und nachmittags über Themen der Lebensgestaltung. Wie mag zu diesen Ereignissen ein geladen worden sein? Durch Glockenläuten? Durch Ausrufer? Durch Mundpropaganda? Wir wissen es offenbar nicht, und es ist uns auch unbekannt, ob diese Predigten in einem gottesdienstlich-liturgischen Rahmen stattfanden und wie dieser beschaffen war. Luther nahm jedenfalls Stellung zu lokalen Konflikten und vertrat offensiv die Strategie der langsamen Reform, die er im Zusammenspiel mit der Landesobrigkeit in Wittenberg entwickelt hatte, um die dortigen radikaleren Bestrebungen einzuhegen und zu kanalisieren. Wie ein mittelalterlicher Wanderprediger scheint er feste Predigtschemata nach den je besonderen lokalen oder temporären Erfordernissen variiert zu haben. Interessant ist die Beobachtung, dass Luther sich immer auf biblische Texte bezogen und diese in Anlehnung an die Perikopenordnung ausgewählt hat: Hier zeigt sich, dass die reformatorische Neugestaltung unbeschadet ihrer inhaltlichen Neuartigkeit den im Spätmittelalter zu beobachtenden Prozess der Ineinanderbildung von freier Bettelordenspredigt und an die Perikopenordnung des ordo missae gebundener Pfarrpredigt fortgesetzt hat. Luthers souveränes Schalten und Walten mit den Texten, das es ihm erlaubte, seine inhaltlichen Leitintentionen mit der Vorgabe der Perikopenordnung zu verbinden, be­zeichnet L. dogmatisch-erbaulich als »Freiheit im Umgang mit der Bibel gepaart mit gleichzeitiger Bindung an die Heilige Schrift« (167). Mir scheint auch hier eher eine deutliche formale Kontinuität mit mittelalterlicher Predigtpraxis und -theorie vorzuliegen, die es ja mit bewunderungswürdiger Kunstfertigkeit verstand, die veritas catholica in jeden noch so abseitigen biblischen Textfetzen hineinzulesen – wobei allerdings bei Luther diese lektüreleitende Instanz eine ganz andere und neuartige geworden war.
In einen völlig anderen Kontext gehört die Kontroverspredigt, die Luther am 29. Juni 1519 auf der Pleißenburg in Leipzig hielt. Der Feiertag (Peter und Paul) unterbrach die Disputation zwischen Eck und Karlstadt, die erst zwei Tage zuvor begonnen hatte, und er bot Luther, der offiziell noch gar nicht zum Kreise der Disputanten gehörte, die Gelegenheit, massiv in den beginnenden Schlagabtausch einzugreifen. Er nutzte sie, indem er ins Zentrum der Kontroversen hineinstieß. Er bezog sich mit der Primatsperikope auf das vorgegebene Tagesevangelium. Am Bekenntnis des Petrus und an Jesu Reaktion darauf entwickelte er mit provokanter Offenheit seine Doppelthese über die Unfreiheit des menschlichen Willens und die souveräne Alleinwirksamkeit von Gottes worthaftem Gnadenwirken, und an der Zusage Jesu an Petrus bekräftigte er seine schon im Vorfeld der Disputation dargelegte Deutung der Petrusgestalt: In Mt 16 wird nicht das Papsttum gestiftet, sondern im Petrusbekenntnis und in der Heilszusage, die es empfängt, konkretisiert sich symbolisch, was Christwerden und Christsein insgesamt bedeutet. Petrus ist demnach gerade in dieser Szene das Ur­bild eines jeden Christenmenschen!
Die Konfrontation zwischen Karlstadt/Luther und Eck ist als Disputation ein Ereignis, das ein im Mittelalter entwickeltes und reich kultiviertes Muster der intellektuellen Konfliktbearbeitung fortsetzt – und zugleich aufbricht, denn die disputatio ist gleichsam aus dem akademischen Kontext ausgewandert und findet als Veranstaltung des Landesherrn statt. Analog knüpft Luthers Predigt an das mittelalterliche genus der akademischen Predigt an, wie es der von ihm durchaus geschätzte Johannes Gerson zur Vollendung geführt hatte. Aber Luther sprengte zugleich die Vorgaben der Gattung, indem er nicht lateinisch, sondern deutsch predigte und seiner Predigt dann ebenfalls in der Volkssprache durch den Druck weite außerakademische Wirkung sicherte.
Auch in dem Kapitel über Luther als Kasualprediger lässt sich auf Schritt und Tritt ablesen, wie der innovative reformatorische Impuls in überkommene Rituale und Handlungsmuster (Taufe, Trauung, Bischofseinsetzung, Kirchweihe – leider sind offenbar keine »Reisepredigten« Luthers anlässlich von Sterbefällen überliefert [351]) eindrang und sie zu Medien des reformatorischen Verständnisses der christlichen Religion umformte. Insbesondere bei den Tauf- und Traureden hätte man das vielleicht liturgiegeschichtlich etwas präziser herausarbeiten können.
Das Kapitel über Luther als »Hofprediger« bietet viele Detaileinsichten und -informationen, die unser Bild von Luthers Rechts- und Politikverständnis vertiefen und bereichern; insbesondere für die Reichs- und Religionspolitik trifft das für das Kapitel über die Predigten auf der Veste Coburg zu.
Insgesamt bietet diese Sammlung von gründlichen Detailstudien eine große Fülle von Einsichten, Erkenntnissen und Anregungen. Allenthalben begegnet man in den Predigten, die L. paraphrasierend und interpretierend vorstellt, den großen reformatorischen Grundgedanken Luthers; wie er sie in seinen exegetischen Vorlesungen und in seinen großen Streitschriften entwickelt hat, in popularisierter und abbreviierter Form, ja, im Übergang zur Verfestigung zur kleinen Münze der vielseitig modulhaft einsetzbaren Kanzelformel. Diese Trivialisierung ist der Preis, der immer fällig wird, wenn innovative Ideen dauerhaft breitenwirksam werden sollen. Es wäre nun vielleicht zu untersuchen, ob diese formelhafte Verfestigung des Reformatorischen in Luthers »Reisepredigten« eventuell schon weiter fortgeschritten ist als in solchen, die er vor seinen Wittenbergern gehalten hat.