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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

86–88

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lane, Jason D.

Titel/Untertitel:

Luther’s Epistle of Straw. The Voice of St. James in Reformation Preaching.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. IX, 252 S. = Historia Hermeneutica. Series Studia, 16. Geb. EUR 92,95. ISBN 9783110534993.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Das Buch von Jason D. Lane, eine Hamburger Dissertation von 2015 unter Anleitung von Johann Anselm Steiger, ist die erste monographische Untersuchung zur Rezeptionsgeschichte des Jakobusbriefes im Luthertum des 16. und 17. Jh.s. Anhand der Kommentar- und Predigtliteratur von lutherischen Autoren der Reformationszeit und der Periode der Konfessionalisierung, angefangen mit Luther selbst und seinen Zeitgenossen und an einzelnen Beispielen bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges fortgeführt, argumentiert der V f. gegen ein verbreitetes Vorurteil, der Jakobusbrief habe im Luthertum seit der Reformation wegen der kritischen Urteile Luthers in seinen Bibelvorreden eine schlechte Presse und nur geringe Bedeutung gehabt. Demgegenüber möchte er zeigen, dass der Jakobusbrief im Rahmen lutherischer Schriftauslegung einen wichtigen Bestandteil biblischer Theologie bildete und wie die übrigen Teile der Heiligen Schrift nach grundlegenden Prinzipien lutherischer Hermeneutik (Zentralbedeutung von Christologie und Soteriologie, Unterschied von Gesetz und Evangelium, Bedeutung des Heiligen Geistes für das rechte Verständnis der Schrift, gesamtbiblischer Zusammenhang) ausgelegt worden ist.
Dies wird besonders deutlich sichtbar an der Predigtpraxis im 16. und 17. Jh., die sich in der Publikation von »Postillen«, also einer Art Musterpredigten für das ganze Kirchenjahr, niedergeschlagen hat, die in hohen Auflagen Verbreitung fanden. Einsetzend mit der Publikation von Luthers eigenen Predigten in solchen Postillen (darunter eine zu Jak 1,16–21 in der Kirchenpostille von 1544) wurden so auch Predigten zum Jakobusbrief regelmäßig verbreitet, da zwei Jakobus-Perikopen im Lektionar für die Sonntage Kantate und Rogate als Predigttexte vorgesehen waren (Jak 1,16–21 und 1,22–27). Auf diese Weise blieb nicht nur der Jakobusbrief selbst im kirchlichen Gedächtnis, sondern zugleich auch die Thematik (man kann auch sagen: Problematik) des Verhältnisses zwischen dessen Rechtfertigungsaussagen und denen bei Paulus. Im Großen und Ganzen zeigt sich, dass sie – wie schon seit den Tagen der Alten Kirche und eben auch in Luthers eigenen Jakobus-Predigten – im Sinne einer harmonisierenden Exegese gelöst wurde, nach welcher die Werke des Christen zwar nichts zu seiner Rechtfertigung beitragen können, aber für sein Leben als Christ unabdingbar sind.
Die Arbeit unterteilt sich in vier Hauptkapitel, denen eine thematische Einführung mit einer Skizze des Untersuchungsziels voran- und die Zusammenfassung in Gestalt einer Thesenreihe nachgestellt sind. Kapitel 1 erschließt anhand der Auslegung des Jakobusbriefes in zwei publizierten Kommentaren des Lutherschülers und Reformators in Brandenburg-Ansbach Andreas Althamer (1500–1539) und deren Rezeption durch Luther aktuelle Debatten um den Brief unter den Wittenberger Reformatoren. Demnach war Althamer in seinem ersten Kommentar von 1527 noch stark von Luthers kritischen Urteilen über den Brief beeinflusst, während sich umgekehrt Luther durch den zweiten Kommentar seines Schülers von 1533, der den Brief deutlich positiver und mit pastoraler Intention kommentierte, zur Revision einzelner Jakobus-Stellen in seiner deutschen Bibelübersetzung von 1534 bewegen ließ.
Kapitel 2 wendet sich den fünf erhaltenen Predigten Luthers zum Jakobusbrief zu (gehalten von 1535 bis 1537, alle entsprechend der Perikopenordnung zu Jak 1,16–21 bzw. 22–27; ein Anhang bietet diese Predigten in englischer Übersetzung). Nur eine von ihnen wurde zu Luthers Lebzeiten in der Kirchenpostille publiziert; die Übrigen sind durch die Aufzeichnungen Georg Rörers überliefert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Luther die Aussagen in Jak 1 als katechetischen Text über Leiden und Anfechtung und über die Macht und Wirksamkeit von Gottes Wort in Gesetz und Evangelium interpretiert und mit ihrer Hilfe seine Predigthörer zu einem lebendigen Glauben führen will, der sich an ihren guten Werken zeigen soll. Luther bindet also die Textaussagen des Jakobusbriefes in seine theologischen Überzeugungen vom Wort Gottes, von der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, von Wiedergeburt und neuem Leben der Christen ein (56 f.). Seine kritische Sicht der Einleitungsfragen zum Brief gibt er dabei nicht auf, lässt sie aber hinter den pastoralen Interessen seiner Textauslegung zurücktreten.
Die beiden folgenden Hauptkapitel analysieren die reiche Predigttradition im Luthertum in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten des 17. Jh.s, allerdings nicht anhand von Aufzeichnungen gehaltener Predigten, sondern im Blick auf gedruckte Postillen sowie gelegentlich auch Kommentare (bisweilen tausend Seiten stark!) zum Jakobusbrief. Das kann man hinsichtlich des Quellenwertes verschieden beurteilen (sicher wurden mehr Predigten [und andere!] tatsächlich gehalten als gedruckt, aber die gedruckten lassen deutlicher und oft auch explizit erkennen, wie gepredigt werden sollte). In jedem Fall wird sichtbar, dass der Jakobusbrief in der Predigtpraxis des Luthertums kein Schattendasein führte, sondern gleichberechtigt zum biblischen Schatz und zur Grundlage dessen gerechnet wurde, was der Verkündigung des Evangeliums Maß und Ziel setzt. Der Vf. untersucht in diesen Kapiteln den Nichtspezialisten größtenteils unbekannte Quellen und erschließt sie methodisch geschickt, indem er entsprechend der Perikopenordnung und der zuvor untersuchten Luther-Predigten jeweils die Predigten zu Jak 1,16–21 und 22–27 näher analysiert und miteinander vergleicht (die Postillen enthalten in der Regel komplette Predi gtsätze zum ganzen Jakobusbrief). Folgende Autoren werden untersucht: Anton Corvinus (1501–1553), Johann Spangenberg (1484–1550), Lucas Lossius (1508–1582), David Chyträus (1530–1600), Simon Pauli (1531–1591), Simon Musäus (1521–1576), Siegfried Sack (1527–1596), Balthasar Kerner (1582–1633) und Hartmann Creide (1606–1656). Dabei ergibt sich bei allen Unterschieden im Einzelnen ein durchweg starkes pastorales Interesse am Jakobusbrief.
Der Einfluss dieser Predigtpraxis auf die lutherischen Gemeinden und ihr gesellschaftliches Umfeld in der Frühen Neuzeit dürfte kaum zu überschätzen sein, auch wenn er nicht messbar ist. Die Pastoren, für deren Predigtvorbereitungen die Postillen oft in Dutzenden von Auflagen publiziert wurden, waren Multiplikatoren lutherischer Frömmigkeit und Lebenspraxis für breiteste Bevölkerungsteile. Neben methodischen Hinweisen zur Vorbereitung und Gestaltung ihrer Predigten boten die Postillen auch Anregungen und Richtlinien für die theologische und pastorale Zielstellung homiletischer Praxis. Dabei zeigt sich eine Tendenz zur Verknüpfung von Bibel und Katechismus in der lutherischen Predigtpraxis des 16. und 17. Jh.s. Mit Hilfe der Loci-Methode und oft auch ausdrücklich in Zuordnung zu einzelnen Katechismus-Stücken wurden die Predigttexte immer in ein Gesamtverständnis der biblischen Botschaft und eines ihr entsprechenden kirchlichen Lebens eingeordnet, und damit eben auch diejenigen aus dem Jakobusbrief.
Wer das vorliegende Buch als Historiker beurteilt, wird vielleicht eine stärkere Kontextualisierung der herangezogenen Quellen vermissen. Der untersuchte Zeitraum von gut 100 Jahren lässt sich sicher weiter differenzieren. Germanisten mögen genauere Textanalysen der einzelnen Predigten oder Kommentarpassagen suchen. Reformationshistoriker könnten eine noch stärkere Einordung der Luther-Predigten in die konkreten Phasen und Herausforderungen der Biographie Luthers für erforderlich halten. Für alle, die an der Auslegungsgeschichte des Jakobusbriefes in der Frühen Neuzeit interessiert sind, bietet das Buch aber reichen Gewinn an Orientierung über einschlägige Quellen und viele Erkenntnisse über das Verständnis des Briefes und den Umgang mit ihm in der kirchlichen Praxis.
Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchungen scheint mir zu sein, dass die oben erwähnte harmonisierende Interpretation des Jakobusbriefes nicht erst nach Luther einsetzt und sozusagen einen »Abfall« von der reinen lutherischen Lehre darstellt, sondern von Luther selbst vertreten wurde, sofern es ihm um die pastorale Auslegung des Briefes ging. In dem Maße, wie diese pastorale Ausrichtung für die Predigtpraxis bestimmend war, trat die kontroverstheologische Beurteilung von Inhalten und Verfasserfragen zu­rück, und das eben auch schon bei Luther selbst.
Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt betrifft die hermeneutischen Prinzipien und Regeln bei der Auslegung von Jakobus-Texten in der lutherischen Predigtpraxis. Grundsätzlich werden nach reformatorischem Verständnis Predigttexte in den Rahmen des Gesamtzeugnisses der Heiligen Schrift gestellt und von ihm her interpretiert. Das war für das Luthertum im 16./17. Jh. zweifellos die Heilsbotschaft von Jesus Christus, wie sie als Gottes Wort in der ganzen Heiligen Schrift bezeugt und mit Hilfe des Heiligen Geistes als lebendiges, ansprechendes Predigtwort zu verkündigen ist. Dafür bot der Jakobusbrief mit seiner lebendigen, abwechslungs- und metaphernreichen Sprache und seinen lebensnahen Einsichten und Anweisungen bestes Material. Was die moderne, historisch denkende und exegetisch differenzierende Bibelwissenschaft beim Jakobusbrief als Defizit erkennt und markiert, wurde in der lutherischen Predigtpraxis ohne jedes Bedenken aus Paulus, Johannes oder den Evangelien in ihn hineininterpretiert, denn er stand ja in der christlichen Bibel nicht allein, sondern im gesamtbiblischen Zusammenhang. Luther, der bekanntlich solche Defizite im Jakobusbrief am schärfsten diagnostiziert hatte, sah das nicht grundsätzlich anders, wie seine eigenen Predigten und übrigens auch zahlreiche Zitate aus dem Brief in seinen reformatorischen Schriften beweisen!