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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

75–78

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tiwald, Markus [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Q Hypothesis Unveiled. Theological, Sociological, and Hermeneutical Issues behind the Sayings Source.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 287 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 225. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783170374423.

Rezensent:

Mogens Müller

Markus Tiwald arrangierte 2019 eine internationale Konferenz in Essen, um heutige Varianten der sogenannten Q-Hypothese, ihre geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, ihre Geschichte und ihr Schicksal in der Welt der theologischen Wissenschaft sowie ihr Verhältnis zur Soziologie, zur Gender-Forschung sowie ihren Ort im Akademischen Unterricht und in der Systematischen Theologie zu beleuchten. Der Band enthält elf Beiträge samt einer zusammenfassenden Einleitung des Herausgebers.
Jens Schröter (Berlin), »Key Issues Concerning the Q Hypothe-sis: Synoptic Problem, Verbal Reconstruction, and the Message of Jesus«, analysiert den heutigen Stand der Forschung, die zunehmend von vorsichtigen und nuancierten Annahmen geprägt sei. Heute spielt auch das Thomasevangelium in der Diskussion zur Gattung von Q eine wichtige Rolle. Die neuere Q-Forschung spricht allgemein lieber von einer Überlieferung, die in mehreren Formen vorlag, was auch die Differenzen zwischen der Gestalt von Q im Matthäus- bzw. im Lukasevangelium erklären würde. Nach wie vor fungiert die Hypothese jedoch als ein Instrument, mit dem man versucht, dem historischen Jesus näherzukommen.
Lukas Bormann (Marburg), »Das Interesse an Markuspriorität, Logienquelle und Zweiquellentheorie im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts« (der einzige deutschsprachige Beitrag), beleuchtet aufgrund einer eindringlichen und kenntnisreichen Analyse der gesellschaftlichen Einflussfaktoren: die disziplinäre Logik in Philologie und Theologie zur Ausbildung im Deutschland des 19. Jh.s, den Beitrag Schleiermachers und die Destruktion seiner Vorgaben und die Ausbildung der Zweiquellentheorie (um die Unterüberschriften des Verfassers zu benutzen). Zum Schluss fragt er, ob die Logienquelle »ein Produkt des deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts« sei – nämlich ein Versuch zu zeigen, »dass Religion und Wissenschaft keine Gegensätze darstellten«.
Christopher Tuckett (Oxford), zeigt in »The Reception of Q Stud-ies in the UK: No room at the inn?«, wie Q-Studien in England nur von wenigen Neutestamentlern betrieben worden sind (a »minority sport«). Zudem kommt es in England schon sehr früh, nämlich bereits 1915 (E. W. Lummis) zu einer Kritik an der Zweiquellen-Theorie auf der Grundlage der Voraussetzung, dass sich das Matthäusevangelium wahrscheinlich unter den Quellen des Lukasevangeliums befand (vgl. Lk 1,1). Später wurde diese Ansicht insbesondere von Austin Farrer und Michael Goulder weiter ausgebaut und zwar als die einfachste Lösung (unter Einbeziehung von Ockams Rasiermesser: entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem), die zudem mit dem britischen common sense im Einklang war. Tuckett ist übrigens der Einzige in diesem Band, der die Frage nach der Chronologie aufgreift, d. h. dass eine Spätdatierung des Lukasevangeliums gegebenenfalls ausschließe, dass der Verfasser das Matthäusevangelium nicht gekannt (und benutzt) habe.
Paul Foster (Edinburgh) informiert in »The Rise and Development of the Farrer Hypothesis« sowohl über die Vorgeschichte als auch über die neuere Entwicklung dieses Lösungsmodells, wie es seit Farrer (1955) insbesondere von Goulder und Mark Goodacre und zuletzt von Francis Watson (2015) entwickelt und verteidigt worden ist.
Der Herausgeber Markus Tiwald beschreibt in »The Investment of Roman Catholics in the 2DH [Two Document Hypothesis] and Q«, dass diese Hypothese, die ja voraussetzt, dass der Apostel Matthäus gegebenenfalls von der Schrift des Nicht-Apostels Markus abhängig war, in den Augen der römisch-katholischen Kirche früher von vornherein verdächtig war und erst nach dem 2. Vatikanum überhaupt öffentlich diskutiert werden konnte, was denn auch, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Frage nach dem historischen Jesus, geschehen ist.
Ein wichtiges Detail dieser Geschichte behandelt Joseph Verheyden (Leuven) unter der Überschrift »Introducing ›Q‹ in French Catholic Scholarship at the Turn of the 19th and 20th Century: Alfred Loisy’s Évangiles synoptique«. Der Leser bekommt hier eine gediegene Einführung in das Leben dieser spannenden, aber aus katholischer Sicht sehr kontroversen Gestalt.
Mein Vorgänger in Kopenhagen (1978–1980) Gerd Theißen (Heidelberg) beschreibt in »Itinerant Radicalism: The Origin of an Exegetical Theory« fast autobiographisch sein Schicksal mit der These von der Bedeutung des Phänomens Wanderradikalismus im ältesten Christentum und im Leben Jesu. Dabei kommt es zu einer gewissen »Entmythologisierung«, indem Theißen das früher weit verbreitete Gerücht entkräftet, er sei zunächst – bevor er aus Kopenhagen eine königliche Ernennung bekam – in Deutschland ein Opfer des damaligen Berufsverbotes gewesen.
Im Kapitel »Itinerant Charismatics and Travelling Artisans – Was Jesus’ Travelling Lifestyle Induced by His Artisan Background?« bietet Marco Frenschkowski eine überaus spannende und informa-tive Darstellung eines Themas, das jedenfalls dem Rezensent so gut wie unbekannt war, nämlich unter welchen Verhältnissen Zimmerleute und andere Bauarbeiter zu jener Zeit ihren Beruf, der damals innerhalb Familien erblich war, unter langer Abwesenheit von ihrer Heimat ausübten. Der Verfasser schlägt vor, sich Jesus als einen solchen herumreisenden Handwerker vorzustellen, der sich allmählich auch mit religiöser Verkündigung beschäftigte.
Die letzten Beiträge gehen in ganz andere Richtungen. Sarah E. Rollens (Rhodes College, USA) fragt: »Where Are All the Women in Q Studies?: Gender Demographics and the Study of Q«. Natürlich hängt die geringe Repräsentation von Frauen auch mit ihrer – jedenfalls früher – kleinen Zahl in der Bibelwissenschaft überhaupt zusammen. Rollens zählt die verschiedenen hemmenden Faktoren für diesen Zustand auf, darunter, dass die zwei Stellen in den USA, wo Q-Studien insbesondere betrieben wurden (Claremont und Harvard), von James M. Robinson bzw. von Helmut Köster besetzt waren, die arbeitsmäßige Forderungen stellten, die Frauen mit Familie kaum erfüllen konnten. Dazu erfahren wir (das ist das erste Mal, dass ich so etwas in einer wissenschaftlichen Arbeit lese!), dass Köster sich nicht zurückgehalten hat, Frauen, in gutem MeToo-Stil von Elaine Pagels repräsentiert, sexuell zu missbrauchen. Das Gerücht davon habe ja auch abschreckend auf weibliche Bewerber um Forschungsstellungen wirken müssen. Als Anhang gibt es ein möglichst vollständiges Verzeichnis von Q-Arbeiten von weiblichen Forscherinnen.
Hildegard Scherer (Chur, Schweiz) untersucht »Learning Lessons on Q: The 2DH and Q in Academic Teaching« mittels einer Analyse protestantischer und katholischer Einleitungen zum Neuen Testament zu Beginn des 20. Jh.s bzw. in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeigt, wie die Zweiquellen-Hypothese in protestantischen Lehrbüchern nicht nur dominiert, sondern inzwischen sogar als einzig mögliche Lösung des synoptischen Problems dargestellt wird, während sie in katholischen Einleitungen in der ersten Periode als unmöglich abgewiesen, in der zweiten aber mehr und mehr akzeptiert wurde.
Der letzte Beitrag stammt von Ralf Miggelbrink (Essen), »The Quest for the historical Jesus and Q in the View of Systematic The-ology«. Die »Thesis« besteht für ihn in der Unmöglichkeit, historisch-kritisch über den Gottessohn etwas sagen zu können, die »Antithesis« in dem früh zunehmenden Interesse am Menschen Jesus, während die »Synthesis« in der Einsicht bestehe, dass die Inkarnation nicht Allwissenheit einschließe, sondern allein bedeute, dass der Inkarnierte, von Gott inspiriert, imstande war, alles richtig zu verstehen. Diese Einsicht veranlasse dazu, der Frage nach dem historischen Jesus auch in einem theologischen Kontext nachzugehen, wozu die »zweite Quelle« einen wertvollen Beitrag leiste.
Wie aus meinem Referat hervorgeht, war die Lektüre dieser Aufsatzsammlung für mich ein sehr gemischtes Erlebnis. Selbst ein entschiedener Q-Skeptiker, wie ich es bin, hat jedoch viel Wertvolles erfahren. Dazu rechne ich auch die Erkenntnis, wie stark die Zweiquellen-Hypothese dazu beigetragen hat, sowohl die chronologische Frage, z. B. die nach einer Spätdatierung des lukanischen Werkes, als auch die Bedeutung, welche die erst neulich erkannte Interpretationsstrategie der »Fortschreibung« im antiken Judentum ( rewritten Bible) für das Verständnis der Entstehung der vier kanonischen Evangelien hat, in den Hintergrund zu drängen.
Für bereitwillige Hilfe, mein Deutsch zu verbessern, danke ich meinem guten Freund Dr. Eberhard Grötzinger.