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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

60–63

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Heasley, Peter A.

Titel/Untertitel:

Prophetic Polyphony. Allusion Criticism of Isa 41,8–16.17–20; 43,1–7; 44,1–5 in a Dialogical Approach.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XXII, 366 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 113. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161592423.

Rezensent:

Torsten Uhlig

Der Begriff der »Polyphony« begegnet in jüngerer Zeit auch in den Bibelwissenschaften häufiger, hier insbesondere in Arbeiten zur Theologie des Alten Testaments oder zur Hermeneutik der Bibel. Freilich wird darunter meistens nicht mehr verstanden als »Vielstimmigkeit«, etwa wenn betont wird, dass im Kanon des Alten Testaments bzw. der Zwei-einen Bibel verschiedene Stimmen nebeneinander gestellt sind.
Wenn in den Literatur- und Kulturwissenschaften von »Polyphonie« die Rede ist, greift man damit gemeinhin die wegweisenden Arbeiten des russischen Literaturwissenschaftlers und Philosophen Michael M. Bachtin (1895–1975) auf. Bei ihm meint Polyphonie keineswegs einfach »Vielstimmigkeit«, denn die gibt es ja allerorten. Polyphonie ist vielmehr die bewusst gestaltete Vielstimmigkeit innerhalb eines literarischen Werkes, für Bachtin bevorzugt im Roman und hier insbesondere in den Romanen Fëdor Dostoevskijs. Nach Bachtin besteht das besondere Verdienst Dostoevskijs darin, dass er den Roman so gestaltet, dass die verschiedenen Stimmen der unterschiedlichen Figuren/Helden wie auch des Autors je ihr jeweiliges Gepräge behalten – ihre Weltsicht –, dabei zueinander in einem dialogischen Verhältnis stehen, ihre Unabgeschlossenheit wahren können und insbesondere nicht einander untergeordnet sind – gleich gar nicht unter die (monologische) alles bestimmende Stimme des Autors (wie Bachtin es insbesondere in den Werken Tolstojs abgebildet sieht).
Bedenkt man, dass in dem fragmentarischen, schwer zu greifenden Werk Bachtins (zur Orientierung vgl. Sylvia Sasse: Michael Bachtin zur Einführung. 2. überarb. Auflage, Hamburg 2018) die nicht identischen, aber zueinander in Beziehung stehenden Begriffe »Po­lyphonie« und »Dialogizität« aus Romanen erschlossen werden und eben darin die generelle Dialogizität von Sprache als Polyphonie besonders gewahrt ist (so besonders in »Probleme der Poetik Dostoevskijs« bzw. »Problems of Dostoevsky’s Poetics«), während in poetischen Texten und rhetorisch argumentierenden Texten der Sprecher alle anderen Stimmen der eigenen (monologisch) unter- bzw. einordnet (so besonders in »Wort im Roman« bzw. »The Discourse in the Novel«), macht allein der Titel »Prophetic Polyphony« des hier zu besprechenden Buches von Peter A. Heasley, eine leicht überarbeitete Fassung der an der Pontificial Gregorian University 2019 angenommenen Dissertation, neugierig: Was kann Bachtin’s Verständnis von Polyphonie und Dialogizität in Romanen für die Interpretation von Prophetenschriften beitragen?
Das Programm der Studie findet sich schon im Untertitel: »Allusion Criticism of Isa 41,8–16.17–20; 43,1–7; 44,1–5 in a Dialogical Approach«. H. möchte in den als Gattung zu fassenden Heilsorakeln in Jes 41,8–16.17–20, Jes 43,1–7 und Jes 44,1–5 Anspielungen auf an-dere Texte identifizieren, dies als eigene exegetische Methode ent-wickeln und etablieren (allusion criticism) und in einen dialogischen Interpretationsansatz einordnen, den H. insbesondere als ein Verhältnis zwischen »Autor« und »Leser« fasst. Dieses Verhältnis, verstanden als Dialog, soll insbesondere an den Anspielungen erkennbar werden und H. möchte erschließen, wie die Anspielungen einen Beitrag zur Formkritik der Heilsorakel als Gattung und zum Dialog zwischen Autor und Leser in den näheren literarischen Kontexten in Jes 41–44 sowie dann im Jesajabuch und schließlich dem ganzen Kanon leisten. Damit wird neben Redaktionsgeschichte und Rhetorischer Analyse ein neuer Interpretationsansatz vorgestellt für das Verhältnis der Einzelperikope und ihrer Einbindung in das jeweilige literarische Werk, der dabei wieder viel stärker formkritische Aspekte für die Einzelperikope zur Geltung bringt und gleichzeitig dem literarischen Zusammenhang hohe Aufmerksamkeit widmet.
In den drei Teilen bzw. sieben Kapiteln zwischen Einführung und Schlussfolgerung entfaltet H. im ersten Teil die exegetische Methode der Analyse von Anspielungen (allusion criticism; Kapitel II) auf dem Hintergrund ihres Beitrags zur veränderten Bestimmung von Formkritik (»anspielende Form«/allusive form) und ihr Verhältnis zur dialogischen Beziehung zwischen »Autor« und »Leser« (Kapitel I), wendet dies in Teil II auf die drei Heilsorakel Jes 41,8–16.17–20 (Kapitel III), Jes 43,1–7 (Kapitel IV) und Jes 44,1–5 (Kapitel V) an und führt in Teil III aus, wie die Heilsorakel als anspielende Form dialogisch im weiteren Kontext des Jesajabuches zusammenklingen (Kapitel VI) und im Rahmen der ganzen Bibel zu einer Theologie prophetischer Dialogizität (Kapitel VII) beitragen.
Auf diesem Wege der dialogischen Bestimmung prophetischer Formen greift H. die Unterscheidung zwischen kompositioneller und architektonischer Form in den (frühen) Werken Bachtins auf: Die kompositionelle Form ist die konkrete sprachliche Gestaltung (Gebrauch eines Gedichts, eines Kurzromans, einer Novelle, oder eben in Jes 41–44 eines Heilsorakels), mit der eine bestimmte Sicht auf die Welt bzw. Wertung des Autors – die »architektonische Form« – verwirklicht wird (die kompositionelle Form wird eingesetzt für Humor, Heroisierung, einem bestimmten Typus, zur Charakterisierung; in Bezug auf die Heilsorakel um Zusicherungen zu machen, diese zu begründen etc.). Auf der Ebene der kompositionellen Form identifiziert H. die wiederkehrenden Elemente der Heilsorakel und die enthaltenen Anspielungen auf andere Texte; beides zusammen macht die jeweilige kompositionelle Form aus. Auf der Ebene der architektonischen Form untersucht H., in welchen Gattungen die angespielten Texte enthalten sind und wie im vorliegenden Text einzelne Elemente dieser Gattungen umgeformt werden und daraus letztlich die spezifische »architektonische Form« sowie ihre spezifische raum-zeitliche Konstruktion (»Chronotopos«) gestaltet sind. Dabei zeigt sich, dass die vielfach beobachtete und thematisierte Nähe der deuterojesajanischen Heilsorakel zu den individuellen Klagepsalmen bewusste literarische Anspielungen sind. H. arbeitet aber gleichzeitig heraus, dass die Anspielungen auf die Klagepsalmen vor allem zur kompositionellen Form des ersten Heilsorakels, Jes 41,8–16.17–20, gehören, während in Jes 43,1–7 Bezüge zu Hymnen und in Jes 44,1–5 Anspielungen auf Geschichtspsalmen dominieren (Teil II, Kapitel III–V). Ein Dialog mit historischen Erzählungen, Gesetzesvorschriften und anderen Prophetenworten lässt sich nach H. in allen drei Heilsorakeln feststellen.
Indem H. die architektonische Form der Heilsorakel schließlich in ihrem jeweiligen unmittelbaren literarischen Umfeld einordnet, zeichnet sich ab, dass sie als eine Reihe wahrzunehmen sind, in der sich Form, Anspielungen und Botschaft weiterentwickeln: von einer Botschaft an Jakob-Israel für sich selbst (Jes 41,8–16.17–20) über eine Botschaft an Jakob-Israel in dessen Beziehung zu Gott als universalem König (Jes 43,1–7) hin zur Botschaft an Jakob-Israel in seinem Verhältnis zu einem »Freund«, dem Anderen, der durch Jakob-Israels prophetische Botschaft Heil kennenlernt (Jes 44,1–5).
Im weiteren Kontext des gesamten Jesajabuches (Teil III, Kapitel VI) möchte H. die Heilsorakel als verschiedene Stimmen verstehen, die die verschiedenen Teile und Wertekontexte prägen und von diesen geprägt werden: So wird Gott zum Autor in Jes 41–44, der dem Knecht Jakob-Israel durch Anspielungen Israels heilige Literatur liest. Dieser Knecht wird in Jes 49–50 im neuen Wertekontext der Stadt Zion-Jerusalem zum »Autor« und liest die Heilsorakel, wo­durch eine weitere Stimme, die Stimme des »Freundes«, etabliert wird, die in Jes 51–54 mit Worten eines Klagepsalmbeters das Leiden des Knechts liest. Hat dieser Freund sich schließlich selbst als Teil der Knechte wahrgenommen, nimmt er im Wertekontext von »Edom-Bosra« in Jes 34–63 seine prophetische Rolle an.
Wo auf die Heilsorakel in anderen Texten (Psalmen, Chr, Lk) an­gespielt wird, zeigt für H., dass sich das Heil der Heilsorakel sich dort ereignet, wo das Heil wahrgenommen, in die eigene Identität integriert und in der Gemeinschaft der von Gott Erlösten verkündet wird (Kapitel VII).
Für alle an der Auslegung Deuterojesajas und dem Jesajabuch Interessierten verdient das Buch Beachtung wegen vieler interessanter Detailbeobachtungen zu den Anspielungen in Jes 41,8–16. 17–20; 43,1–7 und 44,1–5 auf andere Texte und ihre Bedeutung für deren Auslegung. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Ansatz, über die Anspielungen die Dialogizität der Texte in den Blick zu nehmen. Dabei verdienen, auch wenn nicht alle von H. argumentierten literarischen Anknüpfungen überzeugen, besonders die Bezüge zu den Psalmen und ihren differenzierten Gattungen weitere Beachtung, gehen diese doch über die sonstigen Begrenzungen auf Klagepsalmen hinaus.
Des Weiteren vermag H. wichtige Elemente eines allussion criticism als Methodenschritt zu entwickeln und markante Formen der Anspielung zu erhellen (z. B. Parallelismen, Alliteration, Reim, Gebrauch von Präpositionen etc.). Schließlich ist es als nicht geringes Verdienst anzusehen, dass mit dieser Arbeit Stellenwert und Umsetzung von Formkritik in der Prophetenexegese wieder stärker in den Fokus geraten, wofür sie ein gewichtiges Plädoyer darstellt. Gerade in literarischen Werken spielen Gattungen und Untergattungen eine fundamentale Rolle, so dass der inzwischen oft erhobene Einwand gegen Formkritik als bloße (vom romantischen Ideal der Bestimmung der Prophetenpersönlichkeit abhängige) Suche nach den ipsissima verba der Propheten nicht zutrifft. Hinsichtlich dieser Neuausrichtung der Formkritik vermag der Bezug auf die vorrangig frühen Schriften Bachtins in H.s Arbeit wirklich bedenkenswerte Anstöße zu geben.
Anzufragen bleiben im Detail so manche als literarische Bezüge ausgewertete Anspielungen, die in der gegenwärtigen Forschungslage aber alles andere als zwingend sind: So bedürfen die vorgeschlagenen Anspielungen auf Num 31 (Jes 43,2//Num 31,23); Ps 103 (Jes 43,5b–6b//Ps 103,12a.13a) und wohl auch zu Ps 22 (Jes 41,14–16//Ps 22,4–9; Jes 41,17–20//Ps 22,2–3.32; Jes 44,2a//Ps 22,10–12) und Ps 35 (Jes 41,11–12//Ps 35,1.4–6; Jes 41,13//Ps 35,2 etc.) einer wesentlich umfangreicheren Begründung.
Die Rolle der Heilsorakel im weiteren Kontext des gesamten Jesajabuches ist zu stark auf die Auswertung von literarischen Anspielungen begrenzt; hier wären dann doch weitere Faktoren mit einzubeziehen.
Die größte Skepsis bleibt jedoch in Bezug auf die Anwendung des Polyphonie-Begriffes von Bachtin auf die Auslegung des Jesajabuches bzw. Prophetenschriften generell: Angesichts der oben skizzierten Spezifik des Verhältnisses von Dialogizität und Polyphonie im Werk Bachtins wird man weder ihm noch dem Jesajabuch gerecht, sucht man dieses als »prophetic polyphony« zu erweisen. Gewiss kommen im Jesajabuch viele Stimmen zu Wort und sind diese durchaus dialogisch angeordnet (freilich eher im Stile eines Dramas, das für Bachtin jedoch in der Regel monologisch geformt ist!); nicht abzuweisen ist aber die Beobachtung, dass diese Stimmen und Dialoge bestimmten rhetorischen Zielen untergeordnet sind. Nicht das die alttestamentliche Wissenschaft außerordentlich inspirierende und befruchtende Potential der Werke Michail Bachtins ist damit in Zweifel gezogen, sondern vielmehr ihre genaue Beachtung anbefohlen. Überall dort, wo Erzählerstimmen sich bescheiden und unterschiedlichen Blickwinkeln und Weltbildern gleichberechtigt Raum geben – sei es in den alttestamentlichen Erzählungen als solchen oder in der alttestamentlichen Historiographie –, verdienen die Arbeiten Bachtins intensive Berücksichtigung. Propheten und die Stimmen der Propheten in Prophetenschriften aber sind von anderer Art – sie wollen (monologisch) überzeugen. Dies gilt, gerade auch wenn man sie im Wissen um die Werke von Bachtin liest, auch nach H.s in vielerlei Hinsicht lesenswerten Studie.