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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

59–60

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dever, William G.

Titel/Untertitel:

Has Archaeology Buried the Bible?

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 168 S. Geb. US$ 25,99. ISBN 9780802877635.

Rezensent:

Markus Witte

William G. Dever (geb. 1933), emeritierter Professor für Vorderasiatische Archäologie an der University of Arizona in Tucson und zeitweise Direktor der Nelson Glueck School of Biblical Archaeology sowie des W. F. Albright Institute of Archaeological Research in Jerusalem, präsentiert mit dem angezeigten Buch eine allgemein verständliche Darstellung des Beitrags der Archäologie zur Rekonstruktion der Geschichte Israels von seinen Anfängen in der ausgehenden Bronzezeit bis zum Untergang der judäischen Monarchie.
Mit dem Anliegen, die Bedeutung der biblischen Texte für eine moderne Leserschaft aufzuweisen, knüpft D., wie er im Vorwort betont, an den Beginn seines akademischen Lebens an. Im Jahr 1966 an der Harvard University promoviert und stark von dem seinerzeit sehr einflussreichen Archäologen G. Ernest Wright (1909–1974) ge­prägt, hat D. der archäologischen Erforschung der südlichen Levante über viele Jahrzehnte wichtige Impulse gegeben, unter anderem über seine Grabungstätigkeit (Gezer, Ḫirbat al-Kōm, Ǧabal Qa‘āqīr, Tall al-Ḥayyāt). Die jahrzehntelange archäologische Erfahrung und die stete, mitunter heftig geführte Auseinandersetzung über Fragen der biblischen Historiographie kennzeichnen das Büchlein. In ihm beansprucht D. selbst eine mittlere Position zwischen »Maximalismus« und »Minimalismus«. Die Archäologie diene der Erhellung der materiellen Kultur sowohl der in den biblischen Texten erzählten Zeit als auch der Zeit der mutmaßlichen Autoren. Gegenüber den Texten, die aus sehr kleinen, höchstens 10 % der Bevölkerung abdeckenden Kreisen stammten und sich bewusster Reflexion und theologischer Konstruktion verdankten, spiegelten die archäologischen Befunde die Lebenswelt des alten Israel unmittelbarer wider und verliehen den von den Texten mit Schweigen übergangenen Teilen der Bevölkerung eine Stimme. Gegenüber den biblischen Texten komme den archäologischen Funden in historischer Hinsicht die Priorität zu. Die Texte, insbesondere im Bereich der Bücher Richter, 1–2Samuel und 1–2Könige, enthielten aber sehr viel mehr historische Informationen als ihnen beispielsweise von der sogenannten Kopenhagener Schule um Niels Peter Lemche (geb. 1945) oder von dem israelischen Archäologen Israel Finkelstein (geb. 1949) zugestanden würden. Die eigentliche Relevanz der biblischen Texte, näherhin ihre »moralischen Lehren«, versucht D. mittels einer allegorischen und metaphorischen Interpretation zu bestimmen. An einer tiefergehenden literargeschichtlichen oder theologischen Analyse der Texte hat er kein Interesse.
Ein forschungsgeschichtlich und methodologisch ausgerichtetes Kapitel informiert über Wege und Tendenzen der Biblischen Archäologie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart (1–11). Es folgen fünf Kapitel zur Geschichte Israels zwischen ca. 1200 und 600 v. Chr., die sich an der Bücherfolge des Pentateuchs und der Vorderen Propheten orientieren (11–124). Hier bietet D. eine moderat kritisch kommentierte Nacherzählung der biblischen Überlieferung, eine Bestandsaufnahme des archäologischen Befundes und eine Auswertung der bleibenden Bedeutung der biblischen Texte. Ein Kapitel zur Religionsgeschichte Israels in der Eisenzeit (125–141), in dem wichtige Artefakte und Inschriften in Bild und Text vorgestellt werden (Stierfigur von der »Bull Site«, Kultständer von Taanach, Kultinstallation von Dan, Heiligtum von Arad, Inschriften von Kuntillet ‘Agˇru-d, judäische Pfeilerfigurinen) sowie eine Zusammenfassung (142–144) beschließen das kompakte Werk. Beigegeben sind 23 Abbildungen (zumeist Zeichnungen von Haus-, Stadt- und Tempelanlagen), drei Landkarten, thematisch gegliederte, fast ausschließlich nur den angelsächsischen Raum berücksichtigende Literaturempfehlungen sowie ein Register. In den Fließtext sind Exkurse zu Themen wie Geschichte und Geschichtsschreibung, Ethnographie, Mythos, Kulturelles Gedächtnis, Chronologie und Datierung, aber auch zur Urkundenhypothese und zum deuteronomistischen Geschichtswerk oder zu Revisionismus und Postmodernismus eingeflochten.
Die im Titel des Buches gestellte Frage wird durch die Ausführungen D.s klar verneint: Die Archäologie bedeutet nicht das Ende der Bedeutung der biblischen Texte, vielmehr legt sie diese mit jedem neuen Fund ein wenig besser frei. Die von D. vorgetragene Darstellung der Geschichte Israels selbst ist wenig spektakulär. Bei den Erzelterngeschichten handele es sich um mythische Identitätsbestimmungen aus der Königszeit, deren erzählerisches Milieu sich keiner bestimmten Epoche des Alten Orients zuweisen lasse. Hinter der Exodusüberlieferung stünde ein Rettungserlebnis einer kleinen Gruppe, deren Erfahrung sich aber im Laufe des kulturellen Ge­dächtnisses zu einer Israel und das Judentum bis heute prägenden realen Metapher entfaltet habe, vergleichbar dem Thanksgiving-Gedenken an die mit der Mayflower in die USA gekommenen Pilger. Für die »Richterzeit« ergebe sich archäologisch gut das Bild einer agrarisch ausgerichteten, tribal organisierten und in Dörfern lebenden Gesellschaft. Die biblischen Nachrichten über die politischen, militärischen und baulichen Maßnahmen Sauls, Davids und Salomos würden im Grundsatz archäologisch bestätigt, auch wenn die frühen Könige Israels weniger glanzvoll und die von ihnen beanspruchten Gebiete viel kleiner gewesen seien als in der Bibel be­schrieben. Instruktiv und zur weiteren Auseinandersetzung einladend sind hier D.s Interpretation der in den letzten Jahren intensiv diskutierten Ausgrabungen von Ḫirbat Qeiyafa und der von ihm vorgenommenen Vergleiche des Tempels Salomos mit syrischen Tempelanlagen (‘Ain Dāra, Tall Afis). Im Blick auf die Zeit der ge­trennten Königreiche Israel und Juda bestimmt D. den besonderen Beitrag der Archäologie vor allem hinsichtlich der realen Lebensverhältnisse und der gelebten Religion. Die biblischen Texte, außer-biblische Inschriften und die archäologischen Befunde ergänzen sich hier zu einem lebendigen Bild der Königszeit.
Durchgehend merkt man dem Buch an, dass es sich an ein US-amerikanisches Publikum richtet. Dieser Zielrichtung ist wohl auch die graphische Gestaltung des Schutzumschlages geschuldet, der einen Blick auf Masada gibt, der weniger mit der von D. behandelten Geschichte Israels in der Eisenzeit zu tun hat, als dass er an den Grand Canyon erinnert. Gleichwohl ist das Buch auch für eine deutschsprachige Leserschaft ein Gewinn, die mit Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 1807, 408) D. darin Recht geben wird, dass es hinter die Anwendung der historischen Kritik auf die Bibel kein Zurück gibt.