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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

47–49

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Kalimi, Isaac

Titel/Untertitel:

Der Kampf um die Bibel. Jüdische Interpretation, Sektarianismus und Polemik vom Tempel zum Talmud und darüber hinaus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 309 S. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 26. Geb. EUR 60,00. ISBN 9783525573402.

Rezensent:

Hanna Liss

Mit diesem Buch legt Isaac Kalimi ein Werk vor, das in insgesamt zehn Kapiteln (auf zwei Hauptteile) verteilt einen exegetischen, theologischen, rezeptionsgeschichtlichen und hermeneutischen Gang durch die Geschichte des rabbinischen Judentums bis ins Mittelalter hinein vornimmt. Die einzelnen Abschnitte sind nur sehr bedingt aufeinander aufgebaut, und der Leser kann daher durchaus das siebte Kapitel lesen, ohne die ersten sechs gründlich studiert zu haben.
Im ersten Teil (Kapitel 2–4) stellt der Vf. zunächst einige rabbinische Grundlagenwerke vor sowie die Prinzipien der rabbinischen Schrifthermeneutik (vor allem den Topos von der schriftlichen und mündlichen Tora; Kapitel 2), sucht dann am Beispiel des sogenannten lex talionis (Ex 21,23–25; Kapitel 3) die Entwicklung des Verständnisses des »Auge um Auge«-Prinzips von der altorienta-lischen bis zur talmudischen Zeit nachzuzeichnen, um zum Abschluss einige theologische Themen im mittelalterlichen Midrash Tehillim (u. a. Gott; Vergebung; Israel) zu behandeln. Im fünften Kapitel, das sich auf die mittelalterliche Exegese konzentriert und den Leser auf Polemik zwischen Juden, Christen und Muslimen einstimmt, setzt der Vf. gleichwohl zunächst mit dem innerjüdischen Konflikt zwischen Karäern und rabbinischen Autoritäten ein. Im Anschluss daran wird zum einen die Situation im muslimischen Spanien (Maimonides) und in Babylonien (Saadya Gaon), zum anderen die christlich-jüdische Kontroverse vornehmlich in der Provence und in Nordfrankreich angesprochen. Hier werden zwar mit Rashi, Yosef Bekhor Shor, Ibn Ezra, Qimchi die wichtigsten Namen vorgestellt; von ihrer Bibelauslegung werden allerdings hauptsächlich einzelne polemische dicta erwähnt und besprochen. Kapitel 6 mündet in Betrachtungen zum jüdisch-christlichen Verhältnis, in denen auch einleitungswissenschaftliche Themen (z. B. Kanonbildung) behandelt werden.
Im zweiten Teil (Kapitel 7–10) spannt der Vf. anhand einzelner historisch angelegter Fallstudien (Yom Kippur; Tempelgeräte und Umgang mit Arabern) einen großen Bogen von der vorrabbinischen über die vorislamische Epoche (Makkabäerbücher; Baruch-apokalypse; Samaritaner) bis hin zu Saadya Gaon und Avraham Ibn Ezra. Das 9. Kapitel sucht ausgehend von einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen (Makkabäerbücher, Flavius Josephus, den Targumim, den Midrashim sowie dem Talmud Yerushalmi) zu zeigen, wie biblische Völker und Namen mit arabischen Stämmen identifiziert werden. Kapitel 10 umfasst kurze Werkbiographien von Saadya Gaon und Avraham Ibn Ezra. Allerdings werden beide Gelehrte weniger in ihrem geokulturellen Kontext in den islamischen Ländern als vielmehr in ihrer Haltung gegenüber den Karäern verortet. Das Buch schließt mit einer Bibliographie und verschiedenen Registern (Autoren-, Stellen- und Sachregister).
Leider weist das Buch eine Reihe methodischer und inhaltlicher Unschärfen auf. Im Abschnitt über die rabbinischen Quellen sollte deutlicher gemacht werden, dass Mischna, Tosefta sowie beide Talmudim gerade nicht zur Bibelauslegung sensu stricto gehören, sondern schriftliche Manifestationen der mündlichen Tora sind. Auch die literaturgeschichtlichen Bögen vom Codex Eshnunna bis zu den talmudischen Quellen sind nicht nur hinsichtlich der verschiedenen Genres aus verschiedenen Zeiten problematisch; sie sind überdies auch zu vereinfacht dargestellt, denn auch die altorientalischen Gesetzestexte kennen bereits die finanzielle Kompensation (je nach gesellschaftlichem Rang des Opfers). Historische und literarische Themen und Methoden werden oftmals nicht deutlich genug auseinandergehalten. So mancher biblische Text (Erzählungen um Yitro oder König David) erhält dann eine historisierende Auslegung, die die historischen data und/oder außertextlichen Evidenzen nicht hergeben. Auch in der Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Pharisäern, Sadduzäern und Vertretern der Qumrangemeinde am Beispiel des Yom Kippur-Rituals wird die biblische Darstellung hinsichtlich ihres historischen Gehaltes den rabbinischen Quellen gleichgestellt. In der Diskussion um Kanonbildung und Buchreihenfolge ist der Hinweis auf den masoretischen Text irreführend, denn die ersten masoretischen Codices stammen aus dem Mittelalter.
Der das Buch durchziehende ständige Wechsel von den rabbinischen Quellen zur mittelalterlichen Exegese wird vor allem für jene Leserschaft schwierig nachzuvollziehen sein, die diese Texte nicht ohnehin bereits als eigene Quellen zu studieren gewohnt waren. Vielfach werden hier auch Bibelauslegung und philosophischer Umgang mit biblischen Texten und Themen unkritisch vermischt (z. B. der Abschnitt über Maimonides’ Ausführungen zur Prophetie). Die Konzentration des Vf.s auf bestimmte Kernthemen der mittelalterlichen Polemik führt dazu, dass er weder den biblischen Texten gerecht wird, weil einzelne Passagen und ihre jeweiligen Auslegungen isoliert bleiben, noch den Auslegern, weil diese nicht als eigene Quellen bearbeitet werden, was dann aber auch eine genauere geokulturelle und geistesgeschichtliche Einordnung nötig gemacht hätte. Zwischen Saadya Gaon, Ibn Ezra und Qimchi liegen jeweils mehr als 100 Jahre und sehr verschiedene geographische Räume. Dem Werk abträglich ist überdies, dass wichtige neue Literatur nicht zur Kenntnis genommen wurde: weder die Arbeiten von Stefan Schorch zu den Samaritanern noch die Forschungen von Ronny Vollandt zur Biblia Arabica und Saadya Gaon u. v. m.
Fazit: Dies ist ein Buch, das man leider nur eingeschränkt empfehlen kann. Für Leser aus dem Bereich der christlichen Theologie bleibt vieles unverständlich oder irreführend (zum Beispiel haben die Psalmen nicht annähernd die Bedeutung, die sie im Christentum haben). Aus der Sicht der Jüdischen Studien und der Jüdischen Theologie ist vieles unzulässig verkürzt; man würde hier nie einfach streiflichtartig einige Exponenten der mittelalterlich jüdischen Bibelauslegung und die rabbinischen Texte, d. h. Autoren-literaturen, Midrasch, Mischna und Talmud, in einem Atemzug gemeinsam abhandeln. Themen wie die Frage nach dem Verus Israel oder antichristliche Polemik im Kontext der Auslegung von Gesetzestexten mögen noch ein Problem der heutigen christlichen Theologie sein; für die jüdische Bibelauslegung gibt es weitaus spannendere Themen. Der Rekurs auf die »abrahamitischen Religionen« (18), der den Vf. am Ende sogar von einem »gemeinsame[n] Gebrauch der Bibel durch Juden, Christen und Muslime« (237) sprechen lässt, zeigt im Ergebnis, dass der Vf. in seiner Darstellung leider keiner der hier erwähnten historischen Diskursgruppen wirklich gerecht geworden ist.