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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

45–47

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ilan, Tal, Miralles-Maciá, Lorena, u. Ronit Nikolsky[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Rabbinische Literatur. Dt. Ausg. hg. v. C. Cordoni.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 394 S. m. 11 Abb. = Die Bibel und die Frauen, 4.1. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783170388956.

Rezensent:

Catherine Hezser

Der Band basiert auf überarbeiteten deutschen Versionen von Vorträgen, die auf einer Konferenz zum Thema »Rezeption von biblischen Frauen und Gender in der rabbinischen Literatur« an der Freien Universität Berlin im Dezember 2017 gehalten wurden. Die Beiträge untersuchen die Art und Weise, wie biblische Frauen (z. B. Eva, Sara, Hagar, Prophetinnen, Hebammen) und Frauen betreffende Sachverhalte (z. B. Scheidung, Schönheit, Verführung) in rabbinischen Texten von der Mischna bis zum Babylonischen Talmud dargestellt werden. Obwohl es sich bei den einzelnen Kapiteln um detaillierte wissenschaftliche Untersuchungen handelt, ist der Band auch als Einführung in die feministische Auslegung der rabbinischen Literatur geeignet.
In ihrer Einleitung betonen die Herausgeberinnen, dass rabbinische Literatur »männlich konzipiert« ist und insofern die männliche Perspektive auf Frauen(themen) reflektiert. Dies betrifft auch biblische Frauen, deren Darstellung die Rabbinen im Kontext ihrer eigenen zeitgenössischen Zustände »kontrollieren«. Biblische Frauen werden rabbinisiert, d. h., sie dienen dazu, rabbinische Ideale und Lehrmeinungen zum Ausdruck zu bringen. Inwiefern die jü­dischen Zeitgenossen der Rabbinen diese »lehrreichen Rollenmo delle« teilten, bleibt ungewiss. Insgesamt verkörperten biblische Frauen die »Andersheit«, von der sich die Rabbinen in ihrem Selbstverständnis als »ideale jüdische Männer« abgrenzten. Diese spezifisch rabbinische Perspektive, die nicht als männliche oder jüdische Sicht verallgemeinert werden darf, muss bei allen rabbinischen Darstellungen biblischer Frauen beachtet werden.
Die 15 Beiträge behandeln rechtliche, narrative, exegetische und psychologische Aspekte biblischer Frauendarstellungen und Gender Studies. Die Untersuchungen lassen sich nur teilweise thematisch zuordnen und sind unter den Überschriften »Gender, biblisches Gesetz und rabbinische Halakha« und »Biblische Frauen und rabbinische Darstellungen« angeordnet. In ihrem einleitenden Beitrag untersucht Tal Ilan Texte, in denen Frauen Schriftzitate in den Mund gelegt werden und in denen sie mit Rabbinen über Schriftverse sprechen. Insgesamt zitieren nur wenige Frauen aus der Schrift, gewöhnlich Frauen oder Töchter von Rabbinen. »Der Yerushalmi erzählt keine Geschichten von Frauen, die aus der Schrift zitieren, bis auf eine […]« (71). Alle Frauen, die im Babylonischen Talmud als schriftzitierend dargestellt werden, stammen aus dem Land Israel. Rückschlüsse über die Tora-Kenntnisse antiker jüdischer Frauen lassen sich aus den Texten also nicht erschließen. Anhand von Texten im Babylonischen Talmud, die das Sota-Ritual behandeln, bezweifelt Alexander A. Dubrau, »dass Genderfragen an sich für die Exegese von Rabbi Aqiva […] von zentraler Bedeutung sind«. Vielmehr können Frauenthemen diskutierende Texte »allein von hermeneutischen Gesichtspunkten bestimmt« sein (129). Es geht dann nicht so sehr um die Themen an sich, sondern um die wörtliche im Unterschied zu kontextualen oder teleologischen Auslegungen der Schrift. Christiane Hannah Tzuberis Beitrag zur »Haut im Traktat Nega’im« untersucht, wie die biblischen Reinheitsregeln von Lev 13,1–14,57 in der Mischna behandelt werden. Auch hier ist ersichtlich, dass ein Genderstudien-Ansatz nur beschränkt sinnvoll ist: »Im levitischen Text und in der Mischna scheint das Geschlecht der Inspizierten keine Auswirkungen auf die Untersuchung durch einen priesterlichen bzw. rabbinischen Blick zu haben.« (108) Was allerdings untersucht werden kann, ist die Perspektive des Blicks (»gaze«) und die Identifizierung dessen, was diesem Blick entgeht, in diesem Fall nämlich das »Nicht-Sehen von Geschlecht« (112).
Die meisten Beiträge konzentrieren sich auf die Darstellung bestimmter biblischer Frauen in rabbinischen Texten. Cornelia Haendler hat »in der Mischna nur sehr wenige Texte gefunden, die biblische Frauen erwähnen« (151), während die Tosefta weitaus mehr solcher Texte enthält: »Signifikante 25 % aller Frauen, die in der Hebräischen Bibel namentlich erwähnt werden, kommen auch in der Tosefta vor« (156). Die Autorin vermutet, »dass die Mischna die Erwähnung weiblicher Charaktere konsequent vermeidet«, also »eine genderspezifische Auswahl« trifft (160). Diese Diskrepanz wird hier allerdings nicht erklärt. Vielleicht spielte die breitere diskursive Basis der Tosefta hier eine Rolle.
Die restlichen Kapitel untersuchen biblische Frauen im Mi-drasch und Babylonischen Talmud. Gail Labovitz zeigt, dass die Darstellung Hagars in Bereshit Rabbah von Gender-spezifischen Gesichtspunkten, ethnischer Zugehörigkeit, und sozialem Status geprägt ist. Diese Gesichtspunkte sollten nicht separat betrachtet werden, sondern reflektieren die Komplexität rabbinischer Auslegungstraditionen und exegetischer Dispute. Im Hinblick auf den etwa zeitgleichen Midrasch Leviticus Rabbah weist Lorena Miralles-Maciá auf unterschiedliche hermeneutische Kontexte, die die Darstellung biblischer Frauen bestimmen. Ein solcher Kontext kann die Verwandtschaft der Frauen mit bestimmten männlichen Figuren sein oder ein bestimmtes weibliches Verhalten wird als vorbildlich dargestellt. Positive Rollenmodelle und Identifikationsfiguren stehen neben sogenannten »verwerflichen« Frauen, denen meist sexuell unmoralisches Verhalten angelastet wird. Modellfunktion haben auch fremde Frauen wie Rut, die durch ihre Ehe zu einem Teil Israels wurden. Traditionell Frauen zugeschriebene Attribute und Verhaltensweisen wie Schönheit, Verführung und Mutterschaft spielen sowohl in der Hebräischen Bibel als auch in der rabbinischen Literatur eine große Rolle. Dies zeigt Susanne Plietzsch am Beispiel Evas auf, die in der rabbinischen Literatur »durch ihre außerordentliche Schönheit und ihre alle Geschöpfe umfassende Mütterlichkeit gekennzeichnet ist« (219). Yuval Blankovsky geht Texten nach, in denen nichtjüdische Frauen durchaus positiv dargestellt werden, während die ihrer Verführung verfallenden Männer getadelt werden. Er folgert daraus: »Die rabbinische Vorstellung von der Sünde um des Himmels willen korreliert mit der rabbinischen Wahrnehmung verführerischer biblischer Frauen und bringt die Einstellung der Rabbinen gegenüber Frauen und Sexualität zum Ausdruck.« (278)
Der Band ist allen an der rabbinischen Literatur und Frauenforschung Interessierten sehr zu empfehlen. Er führt beispielhaft vor, wie der Ansatz der Gender-Studien für die Bibelauslegung und Analyse der rabbinischen Literatur eingesetzt werden kann, ohne andere Vorgehensweisen und Kontexte auszuschließen.