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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

40–43

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Asiedu, Felix B. A.

Titel/Untertitel:

Josephus, Paul, and the Fate of Early Chris-tianity. History and Silence in the First Century.

Verlag:

Lanham: Rowman & Littlefield (Lexington Books/Fortress Academic) 2019. 404 S. Geb. US$ 120,00. ISBN 9781978701328.

Rezensent:

Vítor Hugo Schell

Das Buch behandelt die Gründe für das Verschweigen und Auslassungen von Ereignissen im historiographischen Werk des Flavius Josephus und deren Bedeutung für die jüdische und frühchristliche Geschichte des 1. Jh.s. Felix B. A. Asiedu hat sie zum ersten Mal im Rahmen einer Vorlesung über das Schweigen des Josephus über den Brand Roms 64 n. Chr. an der Emory University (Atlanta, USA) vorgetragen.
Darüber hinaus thematisiert A. auch das Schweigen des Josephus über Paulus und die Christen in Rom am Ende des 1. Jh.s. Diese Frage sei umso wichtiger, da dem Historiker wohl bewusst war, dass sein Werk das einzige verfügbare Zeugnis dieser Ereignisse bot, nachdem die Archive seiner Heimatstadt Jerusalem zerstört worden waren. So wie das Schweigen des Josephus über Tacitus, Plinius den Jüngeren und Martial nicht bedeutet, dass er diese römischen Prominenten nicht gekannt hat, bedeutet auch sein Schweigen über Paulus nicht, dass er über den Heidenapostel nichts wusste. Da Josephus auch über Kajaphas und Gamaliel keine Berichte vorlegt, ist nach A. zu fragen, welche Informationen solche Berichte über die jüdischen Christen enthalten haben könnten, über die Josephus im Allgemeinen schweigen wollte. Als ehemaliger Pharisäer müsste Paulus dem Vater des Josephus, dem Priester Matthias als einem der führenden Männer in Jerusalem zur Zeit des Paulus, bekannt gewesen sein. Wenigstens durch persönliche Kontakte müsste Matthias auch die Störungen und Streitigkeiten und die darauf folgenden Gerüchte unter den Priestern Jerusalems zur Zeit des Apostels gekannt haben. So wie das Schweigen über Josephus im Talmud zu der Meinung führt, dass die Rabbinen der ersten Jahrhunderte (einige von ihnen mit Sepphoris und Tiberias verbunden, wo Josephus sicher bekannt war) von dem hellenistisch-jüdischen Historiker nichts wussten (was als »universal consensus« gilt [7]), könnte sein Schweigen über Paulus zur Annahme führen, dass er den Apostel nicht kannte. Nach A. schreibt Josephus in seiner Vita aber absichtlich nichts über die Zeit zwischen 56 und 63 n. Chr., die mit der Zeit der Aufsicht Agripas II. über den Tempel, der Festnahme des Paulus in Jerusalem nach der Apostelgeschichte und der Zeit des Josephus als junger Pharisäer in Jerusalem zusammenfällt. Josephus hinterließ von Paulus keine Spur – nicht, weil er ihn nicht kannte, sondern weil er keinen Anlass für die Anerkennung des Paulus und der jüdischen Christen als einer unter den Juden legitimen Gruppe geben wollte. Diese These versucht A. in den fünf Kapiteln seines Buches zu beweisen.
Im ersten Kapitel fragt A. zunächst, inwieweit Josephus seine Gegner und Konkurrenten aus seinem Bericht über jüdisches Leben ausschließt und inwieweit er den Einfluss anderer Historiker, auch solcher, die er in seinen Werken erwähnt, wenigstens zu minimieren versucht. Im Mittelpunkt des Kapitels stehen die Ereignisse aus dem Jahr 62 n. Chr. A. analysiert, warum Josephus in seiner Vita nichts darüber schreibt, obwohl er sie nach verschiedenen Teilen von Bellum und Antiquitates zu kennen scheint.
Im Zusammenhang mit den Berichten des Paulus im Galaterbrief über sein Leben als ehemaliger Pharisäer sei nach A. zu beachten, dass der Apostel ein direkter Zeitgenosse des Matthias, des Vaters des Josephus, war. Es sei seltsam, dass Josephus in seiner Vita ausdrücklich über Simon, den Sohn Gamaliels des Älteren, schreibt, auch einen Pharisäer, zu dessen Familie er gute Beziehungen hatte, aber nichts über Gamaliel selbst, obwohl dieser eine wichtige Quelle für das Verständnis des Pharisäismus seiner Zeit war. A. weist außerdem darauf hin, dass der Zeitpunkt des Eintritts des Josephus in das öffentliche Leben in Jerusalem (ca. 56 n. Chr.) zu beachten sei, da er nach der Chronologie der Apostelgeschichte (Apg 23 f.) mit dem wahrscheinlichen Datum des letzten Besuchs des Paulus in Jerusalem zusammenfällt. Aus historischen Gründen könne man kaum davon ausgehen, dass der achtzehn- bis zweiundzwanzigjährige Josephus (etwa 55–59 n. Chr.) nichts von der Verhaftung von Paulus in Jerusalem und dessen Sendung zum Staatsanwalt Felix gewusst haben sollte. Wenn Matthias zur Bekanntschaft von Gamaliel gehörte, wäre es auch kaum denkbar, dass er Paulus nicht gekannt hat. A. versucht durch viele ähnliche Hinweise zu zeigen, dass Josephus die christliche Bewegung gekannt haben muss oder wenigstens den Menschen (Jakobus, der Bruder Jesu), Orten und Ereignissen (einschließlich des Todes des Jakobus im Jahr 62 n. Chr. in Jerusalem ) so nahe stand, dass er sie in seinen Werken nicht einfach ignorieren konnte. Einen Teil des ersten Kapitels widmet A. außerdem der Frage, warum sowohl die Josephus-Forscher als auch die Paulus-Forscher sich so wenig mit dem Schweigen des Josephus über Paulus beschäftigt haben, und bietet einen guten Überblick darüber, wie dieses Schweigen ausgewertet und verstanden werden kann. Da die Archive in Jerusalem 70 n. Chr. zerstört worden sind und neue Quellen über die jüdische Geschichte für seine Zeit nicht existierten, sollte für die Forschung die Frage nicht gleichgültig sein, was Josephus in sein Werk einschließt und was nicht. In diesem Sinne helfe Josephus, die Quellen zur Dokumentation seiner Zeit zu rekonstruieren. Sein Schweigen über Paulus sei Teil einer bewussten Strategie, um den Judenchris-ten in der Geschichte der Juden keinen Raum zu geben.
Im zweiten Kapitel versucht A., das »Schweigen des Josephus zu lesen«, und beschäftigt sich dazu zunächst mit der Kritik des Josephus an dem Historiker Hieronymus (von Kardia), der in Syrien lebte und über die Juden in seiner Weltgeschichte schwieg. Anstatt sich auf die drei Stellen zu konzentrieren, die üblicherweise im Mittelpunkt der Diskussion um Josephus und die Christen stehen, wählt A. einen anderen Ausgangspunkt, nämlich den Brand Roms 64 n. Chr. Auch darüber schweigt Josephus, obwohl er als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens Jerusalems darüber nicht unwissend sein konnte. Das könnte nach A. für ihn der erste bedeutende Fall gewesen sein, die Christen aus der Geschichte des 1. Jh.s zu tilgen. Das gleiche Ziel verfolgte Josephus beim Verschweigen messianischer Erwartungen im Judentum des Zweiten Tempels, die er ohne Berücksichtigung der Ereignisse um Jesus aus Nazareth nicht hinreichend hätte darstellen können.
Im zweiten Kapitel vergleicht A. auch noch einige Züge des Lebens des Josephus nach Vita und des Paulus nach seinem Brief an die Galater als zwei Hauptquellen für das Judentum des 1. Jh.s. Darüber hinaus analysiert er, warum Josephus die Angelegenheit der Bekehrung der Königin Helena und ihres Sohnes, des Königs Izates von Adiabene, so ausführlich darstellt, aber der Mission des Paulus kein Wort widmet. Schwer nachvollzierbar sei es, dass Josephus die Bekehrung des Paulus und die umstrittenen Angelegenheiten unter Agrippa II. — zu dem Josephus sowohl nach Bellum als auch nach Antiquitates in Beziehung stand — nicht zur Kenntnis nahm, zumal sie trotz spezifischer Züge doch spannende Parallelen zur Geschichte der Bekehrung der Adligen von Adiabene boten. Dies könnte ebenfalls auf die Absicht des Josephus hinweisen, die Christen aus den Archiven des jüdischen Lebens des 1. Jh.s auszuschließen. Am Ende des zweiten Kapitels zeigt A. noch, welche Relevanz die Datierung der Didache für die Diskussion haben könnte. Wenn die Didache um 50 n. Chr. Fasten, Taufe und das Gebet des Herrn thematisiere, bezeuge sie die Anwesenheit von Judenchris-ten zu der Zeit in Judäa, Galiläa und vielleicht Syrien, eine Tatsache, die Josephus nicht einfach ignorieren konnte.
In den Kapiteln 3–5 bezieht A. zeitgenössische Historiker zur Zeit Domitians und kurz nach dessen Regierung (81–96 n. Chr.) wie Tacitus, Plinius den Jüngeren, Martial sowie die Christen, die den ersten Clemensbrief verfassten, in die Diskussion ein. Im Kapitel 3 behandelt er zunächst, was er ein absichtliches Schweigen des Josephus nennt, nämlich das Schweigen über mehr als die Hälfte seines eigenen Lebens in der Vita (nachdem er am Ende der Antiquitates versprochen hatte, ein weiteres Werk über seine gesamte Biographie zu schreiben). Dabei schweigt Josephus gerade über den Teil seines Lebens, der wichtige Informationen über das jüdische Leben in Rom in den letzten drei Jahrzehnten des 1. Jh.s bieten könnte – eine wichtige Zeit auch in Bezug auf Paulus und die ersten Chris-ten. Im Vergleich mit autobiographischen Schriften von Plutarch, Dion von Prusa und Plinius dem Jüngeren sei dieses Schweigen bei Josephus über mehr als zwanzig Jahre seines Lebens in Rom ungewöhnlich. Mason und anderen Forscher lassen diesen auffälligen Aspekt der Vita außer Acht. Auch die Josephus-Biographie von Rajak und das Werk von Hollander werfen die Frage nach dieser Lücke in der Vita nicht auf. Darüber hinaus behandelt A. im dritten Kapitel noch die Frage, warum Josephus sich mit Apion kritisch auseinandersetzt, der schon fast ein halbes Jahrhundert tot war, aber kein Wort über den antijüdischen Dichter Martial schreibt, dessen Epigramm-Dichtung die in den letzten drei Jahrzehnten des 1. Jh.s in Rom weit verbreiteten antijüdischen Gefühle widerspiegelt. Da beide zu gleicher Zeit in Verbindung mit Kaiser Domitian standen, konnten Josephus und Martial einander nicht einfach ignorieren. A. deutet an, Josephus habe Contra Apionem ge­schrieben, damit es als Widerlegung derer diene, die für die Verleumdungen Apions anfällig waren. Insbesondere in Bezug auf seine letzten Jahre in Rom hält A. die Frage für entscheidend, inwieweit Josephus die Flavier noch loben konnte. Sein Contra Apionem sei in diesem Sinne ein Versuch, sich als Jude zu verteidigen und nach der Ermordung seines Patrons Domitian 96 n. Chr. sein Ansehen wiederherzustellen.
Im vierten Kapitel belegt A. die Wirkung von Angst und Misstrauen in Rom unter Domitian bei Schriftstellern wie Martial, Tacitus und Plinius dem Jüngeren und stellt heraus, dass Josephus am Ende seiner Antiquitates um 93/94 n. Chr. komplett über diese bedrohliche Atmosphäre schweigt und immer noch beim Lob seines Patrons bleibt.
Den ersten Clemensbrief versteht A. im abschließenden Kapitel als Zeugnis einer lebendigen christlichen Gemeinde in Rom, die das Regime Domitians überlebt hat und den Brief an die Korinther kurz nach dessen Tod, bereits in einer neuen Zeit unter Nerva, verfasste. A. zeigt, wie der Brief sich die jüdischen Schriften aneignet und die Überlieferung des Apostels Paulus unterstreicht. Das erzeugt Fragen um das Schweigen des Josephus über Paulus, die jüdischen Christen aus Judäa und die Christen in Rom. Das Schweigen des Josephus über die Christen in Rom zur Zeit der Flavier – von denen der erste Clemensbrief später Zeugnis ablegt – bestätigt noch einmal die Furcht, unter der die Autoren jener Zeit lebten und ihre Werke schrieben. Ebenso belegt es die Absicht des Josephus, das historische Bewusstsein über die Zusammengehörigkeit der Christen aus Judäa, Galiläa und Rom mit dem zeit genössischen Judentum abzuwehren. In einem kurzen Epilog un­terstreicht A. noch einmal, dass Josephus es nicht akzeptiert hätte, die Christen, die behaupteten, dass Heiden allein durch Glauben an Jesus Christus Erben Abrahams seien, wie Pharisäer, Sadduzäer und Essener als Teil des Judentums des 1. Jh.s zu tolerieren. Wenn Josephus in seinen Schriften die Christen als Teil des jüdischen Erbes anerkannt hätte, wie es der erste Clemensbrief tut, wäre es auch für die rabbinische Tradition unmöglich gewesen, so A., die Nachfolger Jesu aus Nazaret als Abtrünnige zu behandeln.
Die Hauptthese A.s, dass das Schweigen des Josephus über Paulus Teil seiner bewussten Strategie sei, den Judenchristen in der jüdischen Geschichte keinen Raum zu geben, führt zu weitergehenden Fragen über die Rolle und Bedeutung des Heidenapostels und des frühen Christentums insgesamt für das Judentum sowie im Rahmen der größeren politischen und religiösen Lage im Römischen Reich am Ende des 1. Jh.s. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach einer klaren Trennung von Judentum und Chris-tentum und nach der historischen Beurteilung der Apostelgeschichte als Quelle für die Auseinandersetzungen um Paulus in Jerusalem zu dieser Zeit. Im Blick auf das Schweigen des Josephus und anderer Schriftsteller unter Domitian wäre auch zu fragen, warum Josephus über Paulus und die Christen nichts Negatives schreibt, um sich weiterhin der Gunst Domitians zu versichern, sofern man eine besonders heftige Verfolgung von Christen unter Domitian annimmt. Ebenso kann man fragen, warum Josephus die Schuld der Christen am Brand Roms nicht gerade herausstellt, wenn er sie doch, wie A. behauptet, als Abtrünnige charakterisieren will. Trotz solcher Aspekte, die weiter zu reflektieren wären, bietet die Untersuchung ohne Zweifel wichtige Einsichten in die Beziehungen zwischen der Josephus-Forschung und der neutestamentlichen Forschung sowie generell in Bezug auf die Frage nach seinen Quellen und in Bezug auf seine historischen und theologischen Absichten.