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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

35–38

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Koopmans, Ruud

Titel/Untertitel:

Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt.

Verlag:

München: C. H. Beck 2020. 288 S. m. Abb. u. Ktn. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783406749247.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Scholz, Nina, u. Heiko Heinisch: Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert. Wien u. a.: Molden (Verlagsgruppe Styria) 2019. 175 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 9783222150296.
Schröter, Susanne: Politischer Islam. Stresstest für Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. 381 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783579082998.


Politischer Islam oder legalistischer Islamismus – Streit über die Nomenklatur sollte die Sachdebatte nicht verdecken – nimmt diejenigen islamisch begründeten Haltungen und Handlungen in den Blick, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung auf politischem, legalem Wege im Sinne des Ideals einer islamischen Gesellschaftsordnung zu beeinflussen, zu verändern oder zu beseitigen geeignet sind. Nach Jahren der Fokussierung auf den militanten Islamismus scheint sich die mediale und politische Aufmerksamkeit wieder stärker auf die Übergänge zu richten und auf die Quellen, aus denen sich Radikalisierung und Gewaltbereitschaft mit islamischer Begründung speisen. Neu ist die Beschäftigung damit nicht, doch richtete Österreich 2020 die Dokumentationsstelle Politischer Islam ein, in Deutschland berief das Bundesinnenministerium im Juni 2021 einen Expertenkreis »Politischer Islamismus in Deutschland«, gleich mehrere Publikationen sind in jüngster Zeit zum Thema erschienen.
Das österreichische Autorenduo Heiko Heinisch und Nina Scholz versteht unter dem politischen Islam eine Bewegung innerhalb des Islam, die in den vergangenen 40 Jahren herangewachsen sei und im Islam ein »ganzheitliches Programm« sehe, »das den einzelnen Menschen sowie Staat und Gesellschaft von Grund auf bestimmen soll« (7). Werte der europäischen Aufklärung und die pluralistische Gesellschaft würden innerhalb dieser globalen islamischen Bewegung infrage gestellt und als Angriff auf die eigene Identität betrachtet. Die »Islamisierung des Islam« (Aziz al-Azmeh) werde von Saudi-Arabien, Qatar, Türkei und Iran vorangetrieben. Die Begriffe »politischer Islam« und »Islamismus« werden weitgehend synonym verwendet. Mit ihnen wird ein breites Spektrum von dschihadistischen Organisationen bis zum Bereich des legalis-tischen Islamismus umfasst. Im Aktionsradius des letzteren sieht H einisch Organisationen, »die sich im Rahmen des demokratischen Rechtsstaats bewegen, aber dessen Überwindung anstreben«. Nina Scholz betont in einem Kommentar, dass die Begriffe in der Forschung »gerade nicht pauschalisierend allen Musliminnen und Muslimen übergestülpt« werden. Vielmehr diene die Unterscheidung dazu, fundamentalistische ideologische Strömungen von der durch das Recht auf Religionsfreiheit verbürgten Ausübung der Religion scheiden zu können. Die islamistischen Utopien liefen mit ihrer totalitären Ideologie letztlich auf die »Herrschaft Gottes in der ganzen Welt« hinaus und damit eine Gesellschaft, »die sich islamischen – als göttlich imaginierten – Regeln unterwirft« (8). Der Muslimbruderschaftsideologe Yusuf al-Qaradawi drückte schon vor Jahren seine Erwartung aus, »dass der Islam Europa erobern wird, ohne zum Schwert oder zum Kampf greifen zu müssen«, nämlich mittels da‘wa (Einladung, Missionierung) »und Ideologie« (ebd.).
In zehn thematischen Feldern beleuchten die beiden Autoren Geschichte und Gegenwart, analysieren gängige Schlagworte, ge­hen auf fehlendes Geschichtsbewusstsein in der islamischen Welt und identitätspolitische Diskurse hierzulande ein (von rechts wie von links wird das Konstrukt eines Kollektivs »Muslime« befördert, entweder als Feindbild oder Schutzobjekt, aber nicht gleichberechtigter Teil der Gesellschaft, was verbunden mit paternalistischem Gebaren fatale Folgen hat), dabei immer die politischen Übergänge zum Radikalismus und vor allem die Überschneidungen mit islamistischen Strategien im Blick. Sie identifizieren die »immer gleichen« (sechs) Grundfragen, die der Islamismus zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft provoziert, sie plädieren für Integration statt Segregation und mahnen die Verteidigung der freien Gesellschaft an. Man erhält Hintergrundinformationen zu Entwicklungen und Gruppen und profilierte Standpunkte zu aktuellen Streitthemen, darunter auch Antisemitismus (»originär islamische Ju­denfeindschaft«).
Die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, Susanne Schröter, hebt ebenfalls hervor, dass es »den Islam« im Singular nicht gebe und mit »politischer Islam« bzw. »Islamismus« eine spezifische Ausprägung dieser Religion bezeichnet sei, »die auf die totalitäre Umgestaltung des Politischen und auf eine Unterwerfung von Gesellschaft, Kultur, Politik und Recht unter islamistische Normen« ziele (15). Sie rekonstruiert knapp, dass noch vor Jahren meist von »islamischem Fundamentalismus« die Rede war, treffender sei jedoch der Begriff »Islamismus«, der allerdings »manchmal als Synonym ›des‹ Islam missverstanden« werde. Es ist der islamische Totalitarismus als politische Strömung, den Schröter für »äußerst gefährlich« hält. Sie sieht im politischen Islam einen Gegenentwurf zu Demokratie, Pluralismus und individuellen Freiheitsrechten, der sich auch nach innen und vor allem ge­genüber Frauen und Mädchen repressiv zeigen könne.
Schröter gliedert auch in zehn Kapitel. Historisch geht sie bis Ahmad Ibn Taimiyya (gest. 1328) zurück, dessen Denken die Hauptideologien des politischen Islam, den saudischen Wahhabismus Ende des 18. Jh.s und den Salafismus hundert Jahre später, maßgeblich beeinflusste (16 ff.), sie zeichnet die »Geburt der Muslimbruderschaft« nach und setzt im zweiten Kapitel mit dem globalen Siegeszug des politischen Islam seit 1979 (Iran) fort. Die Muslimbruderschaft in Deutschland erhält ein Kapitel, der türkische und der iranische Islamismus, dschihadistische Strukturen und Aktionen, der muslimische Antisemitismus (»Die tabuisierte Gefahr«, ebenfalls mit Verweis auf Koran und frühen Islam). Der »Unterwerfung der Frauen« ist ein Kapitel gewidmet, weitere Konfliktzonen werden dargestellt, darunter religiöses Mobbing, Kopftuchstreit und Extremismus bei Geflüchteten. Schröter erläutert Netzwerke, ordnet islamische Vereine ein, die regelmäßig Partner in Dialogforen, beim islamischen Religionsunterricht oder in der Deutschen Islamkonferenz sind. Den Duktus könnte man als schonungslos, aber sachlich bezeichnen, immer sehr konkret, die Autorin nennt Ross und Reiter, konkrete Fälle, Namen und Situationen, und sie bezieht selbst Stellung. Das Buch ist leider oberflächlich lektoriert, so dass auf Einzelheiten nicht nur orthographischer Art nicht immer Verlass ist. Das ist störend, fällt bei der Informationsfülle dieses breit angelegten Überblicks aber nicht erheblich ins Gewicht. Am Ende skizziert Schröter knapp die »islamische Diversität«, die sich auch in Deutschland zeigt, und deutet Leitlinien einer zukünftigen Islampolitik an, die gerade angesichts einer totalitären Bewegung, die im Namen von Religionsfreiheit und Toleranz die Fundamente unserer Gesellschaft angreift, auf eine freie Debatte dringen muss.
Bei Ruud Koopmans kommt der Begriff »politischer Islam« nicht im Titel vor. Das Buch widmet sich jedoch dem Thema, indem es untersucht, ob und inwieweit religiöse Faktoren dazu beitragen können, »den Mangel an Demokratie und Wohlstand sowie das Übermaß an Gewalt in der islamischen Welt zu erklären« (10). Warum hat die Mehrheit der nichtmuslimischen Länder – in Regionen, die ebenso von der »westlichen Welt« abhängig waren – Demokratien ausgebildet, während dies in der islamischen Welt nicht der Fall war (20)? Der Soziologe und Migrationsforscher, der von sich sagt, er habe sich das »Linkssein kaputtrecherchiert«, kommt zu dem Schluss, dass dies und viele der Hindernisse für eine erfolgreiche Integration muslimischer Migranten mit der Religion zusammenhängen. Und zwar mit der fundamentalistischen Interpretation des Islam, die – diese Unterscheidung ist auch hier leitend – nicht die einzig mögliche sei, seit dem Aufstieg des islamischen Fundamentalismus in den letzten 40 Jahren jedoch die dominierende wurde. Koopmans behandelt die Begriffe islamischer Fundamentalismus, politischer Islam und Islamismus gleichbedeutend (97). Die Ursachen für das schlechtere Abschneiden von Migranten aus islamischen Ländern in Sachen Integration sind, so Koopmans, die gleichen wie für die Krise in der islamischen Welt nach dem Scheitern autoritärer Zwangsmodernisierungsversuche. Drei »Schlüsselprobleme« werden genannt: die fehlende Trennung von Religion und Staat, die Benachteiligung der Frauen und die Geringschätzung von säkularem Wissen (228). Alle drei sind eng mit Religion und Kultur verwoben, das grundlegendste Problem sei die Vermischung von Religion und Politik.
Das Jahr 1979 brachte den Durchbruch des islamischen Fundamentalismus durch drei miteinander verbundene Ereignisse (Kapitel 1): die iranische Revolution (Februar), die Besetzung der Großen Moschee in Mekka (November; die Wahhabiten nutzten die Situation zur Durchsetzung ihrer Bedingungen) sowie die sowjetische Invasion in Afghanistan (Dezember), woraufhin etwa die USA und Saudi-Arabien die afghanischen Rebellen (siehe Taliban) massiv unterstützten. In den Kapiteln 2–6 konfrontiert der Autor durch diachrone und synchrone (»quasi-experimentelle«) makroperspektivische Vergleiche (z. B. Mauritius – Malediven; Indien – Pakistan/Bangladesch; Nordnigeria – Südnigeria) und aufgrund vielfältigen empirischen Datenmaterials religiöse und nicht-religiöse Erklärungen der Krise in der islamischen Welt, diskutiert die Alternativen und untermauert sein Ergebnis, das »mit den uns vorliegenden Fakten« jedenfalls vorläufig am besten übereinstimme. Im abschließenden Kapitel wendet sich Koopmans gegen ein Alles-oder-Nichts-Denken, gegen die Umkehrung von Opfer- und Täterschaft etwa im Islamophobiediskurs sowie gegen die Instrumentalisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts für die Ablenkung »von dem viel größeren Leid«, das »Muslime einander und anderen zufügen« (243), um mit einem Blick auf Reformbestrebungen und Zukunftsperspektiven abzuschließen.
Bei den vorliegenden Büchern darf kein vertieftes theologisches Verständnis erwartet oder vorausgesetzt werden (Scholz/Heinisch verheddern sich diesbezüglich am wenigsten). Es kommt zu Verzerrungen, wenn das Religiöse thematisiert wird. Da der politische Islam selbstredend nicht ohne die Religion zu denken ist, hätte es in dieser Hinsicht besonderer Umsicht bedurft, die nicht immer zu sehen ist; allzu holzschnittartig sind manche wohlfeilen Schlüsse und Forderungen, für die ein legitimer, lebensbestimmender religiöser Eigensinn offenbar jenseits aller Vorstellungskraft liegt. Doch gehört es auch anderswo zur Kompetenz der Leserschaft, Autoren in ihren Stärken wahrzunehmen. Das ist auch hier empfehlenswert ertragreich und lässt eine Fülle an Material, an be­gründeten Argumentationen und auch durchaus überraschenden Pointen einsehen, die für einen seriösen Fortschritt in den angeschnittenen Problemfeldern nicht nur nützlich, sondern unabdingbar erscheinen.