Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

33–35

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Klinkhammer, Gritt, u. Anna Neumaier

Titel/Untertitel:

Religiöse Pluralitäten – Umbrüche in der Wahrnehmung religiöser Vielfaltin Deutschland.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2020. 298 S. = [transcript] Religionswissenschaft. Kart. EUR 35,00. ISBN 9783837651904.

Rezensent:

Claudia Jahnel

»Religiöse Pluralität existiert empirisch nicht, insofern sie nie als solche zu isolieren ist« (271), so lautet die These der vorliegenden empirischen Studie von Gritt Klinkhammer und Anna Neumaier, die zugleich das Resümee der Autorinnen ist. Die beiden Religionswissenschaftlerinnen sind u. a. in der empirischen Erforschung des Islam und des interreligiösen Dialogs in Deutschland (Klinkhammer) und der Wechselbeziehung von Religion und digitalen Me­dien (Neumaier) erprobt und damit ausgewiesene Vertreterinnen insbesondere der Religionssoziologie. Mit der Thematisierung religiöser Pluralität berühren sie einen Kerngegenstand des Faches – und problematisieren ihn zugleich. Schon die Formulierung des ersten Satzes, der von der »Idee ›religiöse Pluralität‹ als eine imaginäre Einheit in der religiösen Vielheit« spricht, provoziert (7). Religiöse Pluralität wird dekonstruiert und – wie im weiteren Verlauf der Studie wiederholt hervorgehoben – als Diskurs markiert. Diskurse, so definieren die Autorinnen im Anschluss an Foucault und an die wissenssoziologische Diskursforschung (Reiner Keller), sind »kommunikative Deutungen der Wirklichkeit […], die als thematische Bündel verdichtet werden und so gesellschaftliche Ordnung symbolisch stützen und verhandeln« (253). Religiöse Pluralität als Diskurs gibt also eine spezifische Deutung vor.
Das Neue des Ansatzes von Klinkhammer und Neumaier be­steht weniger darin, dass hier »religiöse Pluralität« als politisches Konstrukt entlarvt wird, das – mal positiv konnotiert, mal als Schreckgespenst an die Wand gemalt – machtpolitischen Interessen und Ordnungen dient. Der provokante Reiz der Studie liegt vielmehr darin, dass die Religionssoziologie selbst auf die von ihr »erfundenen« Diskurse und die beanspruchte Deutungshoheit hinterfragt wird. Den zentralen Bezugspunkt liefern Peter L. Bergers Thesen vom Plausibilitätsverlust von Religion in der von Säkularisierung und Individualisierung gezeichneten Moderne sowie von der Pluralisierung, Relativierung, Subjektivierung und postsäkularen Fundamentalisierung von Religion. Diskutiert werden aber auch Thesen von Martin Riesebrodt, Pierre Bourdieu, Thomas Luckmann, Hubert Knoblauch, Hans Kippenberg, Kocku von Stuckrad, Christiane Paulus oder Christoph Bochinger. Schon die Systematisierung (12–26) dieser aktuellen religionssoziologischen Positionen zur religiösen Pluralität macht die Studie zu einem Gewinn.
Diese soziologischen Ansätze berücksichtigen jedoch nach Meinung der Autorinnen zu wenig, wie religiöse Pluralität vom Einzelnen »wahrgenommen«, d. h. erfahren und bewertet werde und inwiefern religiöse Pluralität die Religiosität von Menschen verändere. Es geht um religiöse Pluralität als gesellschaftlichen Diskurs, aber auch und gerade um die Erfahrung dieser Pluralität im »sozialen Nahbereich in Deutschland« (249). Ebendiese Forschungslücke wollen die Autorinnen füllen. Sie schlagen hierfür ein innovatives multiples Vorgehen vor, das sie mit ihrer auf 31 Interviews auf der Basis der grounded theory erhobenen Studie sogleich erproben. Innovativ ist dabei insbesondere der theoretische Ansatz, der Diskursanalyse, poststrukturalistische Perspektiven auf Identitätskonstruktionen, neuere Biographieforschung und einen kulturwissenschaftlichen Ansatz zum Verständnis und zur Erforschung von Generationen verbindet. Diese Theorien und überwiegend jün­geren Forschungsrichtungen, die den meisten Lesern und Le-serinnen vermutlich nicht so vertraut sind, werden in konzentrierter Weise vorgestellt – auch das ist ein Gewinn der Studie. Lediglich die Verteilung der einzelnen Theorieeinheiten über die verschiedenen Kapitel der Studie ist zwar an und für sich sinnvoll, weil sie die jeweilige Perspektive des Kapitels theoretisch einleitet. Sie er­schwert aber manchmal den Blick auf das komplexe Gesamtdesign.
Unmittelbar plausibel wird dieses Gesamtdesign der Studie jedoch durch das im Methodikkapitel von Stuart Hall beliehene Bild des »Vernähens« von Diskursen und der »›Verkettung‹ des Subjekts in den Lauf der Diskurse« (37). In Aufnahme dieses Bildes schlagen die Autorinnen einen Mittelweg vor zwischen einem Verständnis des Subjekts, das dem herrschenden Diskurs gänzlich unterworfen ist und hegemoniale Diskurse zur religiösen Pluralität lediglich wiederholt, und jenem, das das Subjekt im extremen Fall als außerhalb herrschender Diskurse verortet. Der oder die Einzelne »vernäht« also Ansichten zur religiösen Pluralität, die zu einer bestimmten Zeit – in einer bestimmten »Generation« – leitend sind, mit der eigenen Biographie. Neben dem Generationenfaktor spielen Geschlecht oder Religionszugehörigkeit für die jeweilige Rezeption und Narration leitender Diskurse ebenso eine Rolle wie individuelle Erfahrungen.
Letztlich vollzieht die Studie selbst ein vernähendes Vorgehen: Sie analysiert zum einen leitende Diskurse der letzten 70 Jahre zur religiösen Pluralität. Dazu strukturiert sie diese Zeit in »Generationen« (1940–1960, 1960–1980, 1980–1995) (Kapitel 4.1). In den jeweiligen Zeitabschnitten sind unterschiedliche Annahmen über religiöse Pluralität dominant (oder spielt religiöse Pluralität noch keine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit). Zum anderen analysieren die Autorinnen die in den Interviews erhobenen Daten auf die Rezeption dieser Diskurse hin (Kapitel 4.2 und Kapitel 5.2–5.4).
Wie jede empirische Studie hat auch diese ihre – transparent gemachten – Vorzüge und Einschränkungen. Dazu zählt, dass die meisten Interviewpartner und -partnerinnen im Feld des Interreligiösen Dialogs verortet sind. Die Vorgängerstudie Dialogos von Gritt Klinkhammer ist hierfür ursächlich. Kapitel 3 gibt entsprechend einen sehr guten konzentrierten Einblick in die Geschichte des Interreligiösen Dialogs in Deutschland und auch hier in die hegemonialen Annahmen und Ziele. Diese werden »verwoben« mit den Aussagen der Interviewpartner und damit der biographischen Rezeption des Interreligiösen Dialogs. Dabei zeigt sich, dass die Erfahrung religiöser Pluralität höchst unterschiedliche Auswirkungen auf die »Artikulation religiöser Identifikation« haben kann. Insbesondere bei jener Gruppe von Interviewten, die den Interreligiösen Dialog als Bürgerpflicht verstehen, sind keine größeren Veränderungen hinsichtlich des Verständnisses religiöser Pluralität oder hinsichtlich der eigenen Religiosität wahrnehmbar. Religiös motivierte Menschen hingegen artikulieren große Veränderungen durch die Erfahrung religiöser Pluralität im Nahbereich.
So spannend es ist, durch das verwobene Vorgehen Einblick in die »andere« Seite des Interreligiösen Dialogs zu gewinnen, so sehr wäre es wünschenswert, mehr über die Rezeption religiöser Pluralität durch jene zu erfahren, die entweder religiös/interreligiös unmusikalisch sind oder einer religiösen Pluralität ablehnend gegenüberstehen. Auch interkulturell-interreligiöse Erfahrungen blendet die Studie aus Gründen der Vergleichbarkeit aus (164 f.). Dieses Bedauern ist jedoch weniger eine Kritik an der Studie und dem Ansatz als Bestätigung der von den Autorinnen selbst am Ende der Veröffentlichung konstatierten Forschungsdesiderata (272). Gerade die aktuellen Kämpfe um kulturelle und religiöse Deutungshoheiten lassen es als überaus notwendig erscheinen, die Anregungen von Klinkhammer und Neumaier aufzunehmen und Diskurse über Religion und religiösen Pluralismus und deren Rezeption in (interkultureller) Biographie vertieft zu erforschen. Ähnlich wie die neuere Religionsästhetik – zu der ins besondere im Blick auf das vorgeschlagene Verständnis von »Wahrnehmung« einige Parallelen aufscheinen – vermittelt der vorliegende Ansatz einen zeitgemäßen Neuansatz im Feld der Religionswissenschaft.