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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

31–33

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Günther, Sebastian, u. Florian Wilk[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Lesen, Deuten und Verstehen?! Debatten über heilige Texte in Orient und Okzident.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 230 S. = Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs, 10. Geb. EUR 59,00. ISBN 9783161594915.

Rezensent:

Martin Meiser

Der hier anzuzeigende, durch eine Einführung in die einzelnen Beiträge eröffnete Band ist aus einer öffentlichen Ringvorlesung des SFB 1136 »Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums« hervorgegangen und vereinigt altphilologische, theologische, judaistische, althistorische, ägyptologische, arabistische, me­diaevistische und islamwissenschaftliche Beiträge.
Heinz-Günther Nesselrath präsentiert Hesiods Theogonie mit ihren traditionsgeschichtlichen, in Mesopotamien liegenden Voraussetzungen und ihrem Potential zu Nachahmung (u. a. der Derveni-Papyrus), Dichterwettstreit (»Über Homer und Hesiod«) und Kritik (Ps.-Lukian).
Reinhard Müller demonstriert die Verwurzelung vorexilischer Li-te­raturkerne in ugaritischen Traditionsbeständen u. a. anhand von Königspsalmen und Annalen; nachkönigliche Schriftgelehrsamkeit wird in vielem als Fortschreibung älterer Vorlagen erkennbar, vor allem bei den prophetischen Texten, aber auch bei Dtn 6,4 f.
Hermann Lichtenberger zeigt anhand der griechisch-sprachigen Literatur des antiken Judentums, wie dieses bei aller Nachahmung griechischer Literaturformen und Auslegungsvollzüge die Eigenheit seines ethisch-monotheistischen Glaubens bewahrt und Philon von Alexandria den »klugen und hochgelehrten« (Quaest. Gen. IV,2) Homer als sekundierende Stütze für die Wahrheit des Judentums reklamiert.
Ulrike Egelhaaf-Gaiser veranschaulicht anhand der Darstellung der Auffindung und Verbrennung angeblicher Schriften des Numa Pompilius und dem Umgang mit der Tradition der Sibyllinischen Orakel, wie die staatstragenden Schichten jegliche herrschaftskritische Nutzanwendung der genannten religiösen Traditionen von vornherein zu unterbinden suchten, um die Deutungshoheit über das zu behalten, was als römische Religion gelten sollte. Diesem Ziel ist auch jegliches Erfinden von Traditionen untergeordnet.
Den neutestamentlichen Beitrag teilen sich Reinhard Feldmeier (zu Lukas) und Florian Wilk (zu Paulus). Zu Paulus wird festgehalten, dass er nicht von der Schrift her zu dem Glauben an Jesus als den Christus gekommen ist, dass ihn das Christusereignis vielmehr zu einem neuen und umstrittenen (Röm 3,1–8) Schriftverständnis geführt habe. Die Verwurzelung des Paulus in der Heiligen Schrift Israels (2Sam 7,12–14; Jes 11,1 f.10 gelten als Prätexte für Röm 1,1–7, Ps 97[98],1–4; Jes 56,1.3 als Prätext für Röm 1,16 f.) erlau be es ihm jedoch, Gottes Treue zu Israel und Gottes heilvolle Zuwendung zu den Nichtjuden zusammenzudenken. Lukas nimmt die Heilige Schrift Israels als Ausdruck des in Jesus allen Völkern zugutekommenden Heilswillens Gottes wahr; letztlich kann das im lukanischen Doppelwerk wiedergegebene Geschehen »auf ein Zusammenwirken von Vater, Sohn und Heiligem Geist zurückgeführt« (105) werden.
Heike Behlmer präsentiert Debatten um die Heilige Schrift im ägyptischen Christentum. Die Geschichte der koptischen Bibelübersetzungen ist durch die allmähliche Verdrängung des Sahidischen durch das Bohairische als Literatursprache und das Arabische als Alltagssprache bestimmt; sahidische Übersetzungen sind oft freier, bohairische oft literaler gehalten. Debatten um die Kanonizität bestimmter Schriften hat es gegeben; was Athanasius als nicht kanonisch, aber »nützlich« benannte, wurde von Schenute als Hl. Schrift herangezogen; beide eint die Ablehnung apokrypher Schriften.
Martin Tamcke veranschaulicht, wie die heiligen Schriften im ostsyrischen Christentum, das lange Zeit auch in China als Religion akzeptiert war, in einem Ineinander dogmatischer und biblisch-exegetischer Aspekte rezipiert wurden. Theodor von Mopsuestia wurde zur formalen Autorität, was nicht verhindert hat, dass u. a. die Allegorese auch in der disparaten ostsyrischen Auslegungsgeschichte Einzug hielt; Auseinandersetzungen um den Leiter der Schule von Nisibis, Henana, am Anfang des 7. Jh.s waren die Folge. Biblisch inspirierte Poesie hilft schließlich, angesichts der Übermacht islamischer Kultur christliche Identität zu bewahren.
Wolfram Drews behandelt den im muslimischen Spanien verfassten Briefwechsel zwischen dem mozarabischen Christen Paulus Alvarus und dem zum Judentum konvertierten Kleriker Bodo-Eleazar aus dem Frankenreich (9. Jh.). Während Paulus Alvarus aus Sorge um seine Glaubensgenossen weithin mit traditionellen To­poi der Adversus-Iudaeos-Literatur argumentiert, ist bei Bodo-Eleazar als Motiv der Konversion vermutlich die Erkenntnis selektiven traditionell-christlichen Schriftgebrauchs neben innerkirchlichen und innerhöfischen Konflikten leitend gewesen.
Angelika Neuwirth zeichnet die Wirkungsgeschichte einzelner biblischer »Sinnparadigmen« (148) im Koran nach. In der frühen Sure 73 gilt Ps 19,55 als performatives Vorbild; Sure 81,1–14 intendiert keine apokalyptische Eschatologie, sondern die rationale »Einsehbarkeit des eigenen Lebens« (152). Sure 38,21.27 richtet sich gegen die Selbststilisierung des byzantinischen Kaisers Herakleios (610–646) als des zweiten David und des zweiten Salomo, indem beide biblischen Gestalten weniger als Könige denn vielmehr als exemplarische Büßer dargestellt werden. Sure 8,26 formuliert schließlich den Auszug von Mekka nach Medina in Tönen, die an die Pessach-Haggada (vgl. Dtn 26,5) erinnern; der Gebetsritus kann als spiritueller Exodus gelten.
Sebastian Günther beleuchtet die Wirkungsgeschichte des Dekalogs im Koran. Während Sure 2,83 f. auf den Bund Gottes mit Israel hinweisen, der auch Verpflichtungen in sich schließt, aber keinen expliziten Bezug zum Dekalog thematisieren, enthält Sure 7,142–145 den Bezug auf die Tafeln von Ex 32,15 f. Im 12. Jh. wird auf Ibn ’Abbās (gest. 687/688) die Tradition zurückgeführt, zu jedem biblischen Gebot das Äquivalent im Koran aufzuweisen. Sure 6,153–155 mit ihren Parallelen u. a. in den Geboten des Monotheismus und der Elternehrung erweist sich hier wie auch andernorts neben Sure 17, 22–39 immer wieder als Anlass der Bezugnahme auf den biblischen Dekalog.
In einem Nachwort hält Peter Gemeinhardt fest, wie aufgrund der Divergenzen hinsichtlich Bestand und Autoritisierung »heiliger« Traditionen und der Einsicht in (De-)Kanonisierungsprozesse, die immer auch Machtansprüche widerspiegeln, die Notwendigkeit religiöser Bildung erwächst.
Das Buch wird dem Anspruch und den Anforderungen einer öffentlichen Ringvorlesung vollauf gerecht und vermittelt das, was als Aufgabenstellung des SFB 1136 in Bezug auf die Antike er­scheint, auch für die Gegenwart: Bildung. Man liest es mit Gewinn. Die zeitliche Begrenzung durch die Dauer eines Wintersemesters führt dazu, dass manches an Debatten ausgespart werden musste, etwa jüdische und christliche Debatten über die Autorität der Septuaginta oder die pagane Christentumskritik, die bei Kelsos, Porphyrios, Julian Apostata und dem bei Makarios Magnes genannten Anonymus immer auch Schriftkritik war.