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Ausgabe:

Januar/2022

Spalte:

27–29

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Akca, Ayşe Almıla

Titel/Untertitel:

Moscheeleben in Deutschland. Eine Ethnographie zu Islamischem Wissen, Tradition und religiöser Autorität.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2020. 436 S. = [transcript] global | local Islam. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783837650457.

Rezensent:

Nina Käsehage

Das angezeigte Werk stellt die Publikation der Dissertation Islamisches Wissen in Moscheen in Deutschland. Legitimation und Autorisierung von islamischem Wissen im Spannungsfeld selbstorganisierter Religiosität der Islamwissenschaftlerin Ayşe Almıla Akca dar. Diese wurde im Jahr 2018 an der Freien Universität Berlin eingereicht und von den Gutachtern Amir-Moazami und Agai betreut. Im Jahr 2019 wurde A.s Dissertation mit dem Dissertationspreis der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO) ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde A. mit der Leitung der Nachwuchsgruppe »Islamische Theologie im Kontext: Wissenschaft und Gesellschaft« am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt Universität zu Berlin betraut.
Die vorliegende Ethnographie stellt das Ergebnis einer fünfjährigen Feldforschung in ausgewählten islamischen Gemeinden der Ahmadiyya, DITIB, IGMG, VIKZ sowie einigen arabisch- und bosnischsprachigen Gemeinden in Baden-Württemberg dar. Neben der Einführung und Schlussbetrachtung enthält das Werk A.s vier Kapitel, die sich mit Islamischem Wissen, Praxis und Moscheeleben (Kapitel I), Moscheen im islamischen Feld in Deutschland (Kapitel II), der Moschee als gegenderter Ort (Kapitel III) sowie der hegemonialen Lehrtradition und ihre[r] Kritiker*innen – Suche nach dem wahren Islam in Mainstream-Moscheen (Kapitel IV) beschäftigen. Die drei Schwerpunkte der Ethnographie liegen auf der Diskussion der »Akteur*innen und religiöse[r] Autorität, gegenderte[n] Moschee« und der »Problematisierung der islamischen Tradition« (26), die sich innerhalb der untersuchten Moscheen in stetigen Aushandlungsprozessen befänden.
Das untersuchte islamische Feld definiert A. in Anlehnung an Bourdieu als Orte islamischer Wissensproduktion, die die ausgewählten Moscheen und Imame zwar einschließen, jedoch explizit darüberhinausgehende Bezugspunkte und religiöse Experten berücksichtigen würden, da diese Räume und Akteure bzw. Akteurinnen sich wechselseitig inhaltlich befruchteten. Mit dieser Vorgehensweise verfolgt A. das Ziel, die bisherige Forschungslücke hinsichtlich der Diversität »Islamische[n] Wissens in Moscheen in Deutschland« (12) und des Definitionsrahmens des Terminus »religiöse Akteur*innen« und »Expert*innen« zu schließen, indem sie diejenigen Personen inkludiere, die zwar keine Amtsautorität besäßen, jedoch aufgrund ihres Wirkens »im islamischen Feld das islamische Wissen im Moscheeleben mitbestimmen« (18) würden.
Insbesondere der abgebildete Perspektivwechsel in den untersuchten Moscheen, die »religiöse Wissensproduktion von Frauen über Frauen« (ebd.) und die Bedeutung der religiösen Arbeit von Frauen in den Moscheen beinhaltet, dürfte für viele Leserinnen bzw. Leser von Interesse sein. A. bildet mit der Frage der Einbindung von Frauen in die Gemeindearbeit, die von fortwährenden Aushandlungsprozessen hinsichtlich weiblicher religiöser Anerkennung, Autorität, Funktionseinbindung und Visibilität begleitet werden, ein Thema ab, das im interreligiösen Dialog abrahamitischer Religionen traditionell diskutiert wird.
Jedoch verbleibt A. mit Blick auf die Frauenrechte im Islam nicht auf der Ebene des Status quo interreligiöser Diskussionen, sondern rückt die Religiosität von Frauen, ihre Moscheebesuche und ihren Einfluss auf das vermittelte religiöse Wissen in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung. In diesem Zusammenhang ist die kontinuierlich betriebene Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Stereotype, die in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Rollenverteilung von Männern und Frauen in islamischen Gemeinden noch immer vorherrschen, durch A.s Untersuchung besonders hervorzuheben. Dabei kommt A. zum Ergebnis, dass die Frauen nicht nur passiv strukturellen Entscheidungen auf Vorstands- oder Verbandsebene ausgesetzt seien (vgl. 210), sondern bspw. mit Blick auf die räumliche Geschlechtertrennung auch aktiv selbst zum Teil dazu beitrügen, dass bestehende Regelungen beibehalten würden.
Im Gegensatz zu Untersuchungen über »den« Islam in Deutschland, denen A. eine Tendenz zur »Hegemonalisierung eines männlichen Islam als ›der‹ Islam« attestiert (19), liegt der Fokus ihrer Untersuchung auf beiden Geschlechtern und deren Rolle(-nverständnis) in der deutschen Moscheenlandschaft. In diesem Kontext kommt A. zu dem Ergebnis, dass die religiösen Räume der Wissensvermittlung sich über die Räume der Moscheen hinaus er­streckten, ohne dabei an Bedeutung für die Gläubigen zu verlieren. Stattdessen würden diese weiteren Zentren religiöser Wissensvermittlung, denen bislang in der Forschung wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, dazu beitragen, dass eine religiöse Wissensvielfalt entstünde. Der weibliche Moscheebesuch stelle dabei die Re­vitalisierung einer vergessenen islamischen Tradition dar und keines wegs eine unerlaubte Neuerung. Infolgedessen könne sich die Frau­enmoschee-Bewegung ihr Engagement religiös legitimieren (213).
Neben der räumlichen Verschiebung religiöser Wissensvermittlung unterstreicht A.s Ethnographie auch die Notwendigkeit der Betrachtung unterschiedlicher Zusammenkünfte von Muslimen. Außer Gottesdiensten wurden auch Gruppentreffen und religiöse Feste an Orten außerhalb der Moschee, an denen A. in teilnehmender Beobachtung partizipierte, als Quelle religiöser Interaktion der Gläubigen analysiert.
Der Facettenreichtum religiöser Räume und Akteure bzw. Akteurinnen, die ihren Handlungsspielraum weit über die Grenzen der Moscheen hinaus ausgedehnt hätten, habe neue Formen weiblicher religiöser Autorität begünstigt. Diese Entwicklung könne jedoch nicht zwangsläufig mit den Hierarchiestrukturen einer Kirchengemeinde gleichgesetzt werden, in denen bspw. Pfarrerinnen-Stellen funktionale weibliche Autorität ausdrückten, weil dieser Vergleich für die Akzeptanz und Förderung der Mitspracherechte von Frauen in islamischen Experten-Gremien, in denen die Frauen bislang religiöse Anerkennung erführen, zum Teil negative Auswirkungen für sie haben könne. Dieser Hinweis A.s hinsichtlich der Grenzen einer Vergleichbarkeit religiöser Hierarchieebenen innerhalb monotheistischer Religionen ist aus religionswissenschaftlicher Perspektive wichtig, weil er verdeutlicht, dass die Anerkennung der Unterschiede von Religionsgemeinschaften ebenso wichtig ist wie die Förderung von deren Gemeinsamkeiten für den interreligiösen Diskurs.
Die Vielzahl der Untersuchungsräume und deren inhaltliche Bedeutung, die A.s Werk zu entnehmen sind, reflektieren die Diversität der Gemeinde(-mitglieder).
Darüber hinaus berücksichtigt A. bei ihrer Untersuchung ebenfalls kritische Aspekte, bspw. die Abhängigkeit regionaler Gemeinden von überregionalen Entscheidungsträgern, die mit Blick auf die untersuchten DITIB-Gemeinden nicht immer im Einklang mit der Vorgehensweise der örtlichen Funktionsträger oder der Lebensweise der Gläubigen stünden. Dennoch sieht A. durch die hier stattfindenden Aushandlungsprozesse die Entstehung neuer Ansätze, Handlungsoptionen und Emanzipationsbewegungen für Frauen und Männer begründet, deren Rollenverständnis sich im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen in Deutschland verändert habe.
Damit einher geht A.s Forderung einer differenzierten Betrachtung islamischer Verbände, die, ungeachtet ihrer Positionierung zur türkischen Religionspolitik, häufig als Monolith betrachtet würden. Diese Vereinheitlichung führe dazu, dass inner-islamische Deutungskämpfe und Diskussionen nicht erkannt oder im öffentlichen Diskurs berücksichtigt würden, die gleichermaßen für »die Autorisierung islamischen Wissens […] und den Umgang mit islamischer Tradition im islamischen Feld in Deutschland« (384) bedeutsam seien.
Der Wandel der Reproduktion von Wissen, den A. in den untersuchten islamischen Gemeinden beobachten konnte, schafft die Grundlage für einen breiten Zugang zu wissensbasierten Religionsdeutungen. Diese könnten gemäß A. die freie Zugänglichkeit zum religiösen Wissen für Interessierte zur Folge haben und jedes Individuum dazu befähigen, dieses zu verstehen und individuell zu hinterfragen. Hierdurch würde die religiöse Deutungsmacht althergebrachter Wissensvermittlung, die religiöse Autorität, Wissenskontrolle und Auslegungsmonopolbildungen beinhalte, sukzessive dekonstruiert werden, um Raum für eine plurale religiöse Wissensvermittlung zu schaffen.
Insgesamt betrachtet, stellt das Werk von A. eine differenzierte Untersuchung des im kontinuierlichen Wandel befindlichen islamischen und religiösen Wissens in deutschen Moscheen im Spannungsfeld von Tradition und Moderne dar. Aufgrund der präzisen Abbildung der geschlechterbezogenen, politischen, religiösen und sozialen Heterogenität des Forschungsfeldes »Moschee« eignet sich A.s Werk hervorragend als Lektüre für zahlreiche Disziplinen wie die Islam- und Religionswissenschaft, Gender Studies und Theologie. Darüber hinaus dürfte A.s Ethnographie aufgrund der (über-) regional bedeutsamen Entwicklungen, die mit Blick auf das islamische Feld derzeit zu konstatieren sind, ebenso für die Politik- und Sozialwissenschaft von großem Interesse sein.