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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1233-1234

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Evans, C. Stephen

Titel/Untertitel:

Kierkegaard and Spirituality. Accountability as the Meaning of Human Existence.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2019. 224 S. = Kierkegaard as a Christian Thinker. Kart. US$ 25,00. ISBN 9780802872869.

Rezensent:

Roman Winter

C. Stephen Evans darf unter den amerikanischen Religionsphilosophen gewiss zu einem ausgewiesenen Experten der Kierkegaardforschung gezählt werden. Seine umfangreichen Arbeiten und Publikationen zeitigen einen jahrzehntelangen Reflexionsprozess der Grundbegriffe und -probleme des Dänen. Im vorliegenden Buch, das in der Reihe »Kierkegaard as a Christian Thinker« erschien, widmet sich E. einer oft nur an der Peripherie wahrgenommenen Seite Kierkegaards, nämlich dessen Theologie, die zu einer »geistigen Exis­tenz« coram Deo führen soll. E. akzentuiert Kierkegaards Rolle als religiöser Schriftsteller, reichert diese aber durch verschiedene Seitenblicke auf dessen Theologie und erbauliche Schriften an. Als Ziel (der Lektüre) wird die Erwartung formuliert, dass Kierkegaard selbst zu einem Lehrer oder Seelsorger werden kann, sofern man bereit ist, sich auf die »geistige Existenz« einzulassen.
Der Titel bedarf wohl eingehender Interpretation, die zugleich das gesamte Werk umfassend zu beschreiben vermag. Es steht nämlich nicht das ordinäre (deutsche) Verständnis von Spiritua-lität im Zentrum, sondern ein Phänomen, das mit »geistiger Exis-tenz« oder Geistigkeit übersetzt werden könnte. E. beginnt seine Überlegungen im Anschluss an Kierkegaards Begriff »Geist«, vornehmlich rekonstruiert aus dessen Schrift »Die Krankheit zum Tode«. Bekanntlich hatte Kierkegaard dort den Geist relational-dialektisch zwischen menschlichen Existenzialien wie Freiheit und Notwendigkeit, usw., verortet. Sofern nun der Mensch diese Synthese, die er de facto ist, auch annimmt und sie vor Gott aufrichtig führt, d. h. aber zugleich sich selbst als verantwortbar gegenüber Gott erklärt, lebt er »geistig«. Da nun Kierkegaard annimmt, dass jede Existenz von Gott geschaffen und zu einer Aufgabe (zu einem Selbst) berufen ist, liegt in diesem Gabencharakter zugleich die Verantwortbarkeit (accountability) vor Gott.
Im Verlauf des Buches zeichnet E. eine graduell zunehmende, geistige Entwicklung von einer sogenannten »sokratischen Geis-tigkeit« hin zur christlichen Geistigkeit nach. Wobei Formen der Geistlosigkeit mitberücksichtigt werden. Da Geist und Verantwortbarkeit von Kierkegaard zur conditio humana gerechnet werden, ist die sokratische Form eine Transformation unserer natürlichen Anlagen hin zu einem absoluten Verhältnis zum Absoluten (Gott). Jeder Mensch kann und soll ein solches Leben führen. E. ist hier darum bemüht, die Abgrenzung zum Religiösen zu verdeutlichen und diese Form darum wesentlich ethisch zu bestimmen; im Anschluss an die Wahrheitsliebe des Sokrates. Dennoch entpuppt sich, nach E., Kierkegaard bereits hier als ein »natürlicher Theologe«. In der zweiten Hälfte des Buches arbeitet E. die christliche Exis- tenz bedingt durch das Paradox – den inkarnierten Gott –, und stark auf die erbaulichen Reden sowie Spätschriften Kierkegaards fokussierend, heraus. Die christliche Geistigkeit gründet im Glauben – ein Begriff, der über weite Strecken des Buches diskutiert wird – an das Vorbild: Christus. Die eigentümliche Sprache Kierkegaards übernehmend, wird Christus als Forbillede (engl. Pattern) unseres ethischen und praktischen Lebens vorgestellt, dem es nachzufolgen gilt. Ob diese Nachfolge notwendigerweise Leiden impliziert, wie Kierkegaards Werke tendenziell nahelegen, wird von E. kritisch evaluiert und positiv gewürdigt.
Das Buch ist von einer verständlichen Sprache geprägt. Als Kierkegaardexperte gewährt E. den Lesenden einen spannenden Einblick in einige Kontroversen der Kierkegaardforschung und zu­gleich in einen umfassenden Teil des Denkens Kierkegaards. E. ist als ein für Kritik offener Interpret zu würdigen. Oft verbleibt er allerdings im Duktus Kierkegaards, so dass dessen religionsphilosophische Voraussetzungen teilweise nicht mehr im Lichte der Gegenwart evaluiert werden. Entsprechend kann das Buch nur teilweise in die kritische Forschungsliteratur eingeordnet werden; es beleuchtet eher affirmativ die Konzeption des Geistigen bei Kierkegaard. Obschon E. darum bemüht ist, die Kontroversen um Kierkegaard abzumildern, leugnet er nicht die problematischen Passagen in dessen Leben, etwa die letzten Jahre des Angriffs auf die Kirche oder dessen Vernachlässigung einer Kritik der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse zugunsten einer Stabilisierung derselben im Namen einer schöpferisch-providentialen Ordnung. D as Buch kann als eine Einführung in die religiöse und theolo-gische Wirksamkeit Kierkegaards verstanden werden, wobei der Fokus nicht allein auf der konzeptionellen Erörterung liegt, sondern auch dessen geistiges Leben inklusive aller Ärgernisse mitbedacht wird.