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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1226-1227

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Herbers, Klaus, u. Matthias Simperl[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Das Buch derPäpste – Liber pontificalis. Ein Schlüsseldokument europäischer Geschichte.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2020. 496 S. = Römische Quartalschrift. Supplementbände, 67. Geb. EUR 80,00. ISBN 9783451388675.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Der von dem Erlanger emeritierten Mittelalterhistoriker Klaus Herbers und dem katholischen Augsburger Kirchenhistoriker Matthias Simperl herausgegebene Band versammelt 20 wissenschaftliche Beiträge, die im November 2018 anlässlich einer Tagung am Institut der Görres-Gesellschaft in Rom präsentiert wurden. Aus unterschiedlichen Perspektiven erschließen die Aufsätze den »Liber pontificalis«, das im 6. Jh. begonnene und im 15. Jh. abgeschlossene Buch der Päpste, welches Darstellungen der Pontifikate der römischen Bischöfe vom 1. bis zum 15. Jh. enthält. Es handelt sich dabei, wie der Untertitel des Sammelbandes zu Recht betont, um ein Schlüsseldokument der Kirchen- und Kulturgeschichte Europas. In seiner Vielfalt und Komplexität ist dieses Dokument nun erstmals von Wissenschaftlern aus vielen verschiedenen Nationen und aus zahlreichen Fachdisziplinen exemplarisch aufgearbeitet worden. Der vorgelegte Band spiegelt mithin eine enorme Vielfalt von Ansätzen, Fragestellungen und Zugangsweisen wider. Zugleich ist er als Gesamtwerk erstaunlich kohärent geraten.
Zur Kohärenz des Bandes trägt die Zuordnung der Aufsätze zu vier Hauptkapiteln erheblich bei. Nach einer gelungenen Einführung von Klaus Herbers, die vor allem die Strukturelemente in den »Viten« des »Liber pontificalis« aufzuzeigen versteht (11–33), beschäftigen sich in einem ersten Kapitel sechs Beiträge mit der Genese und den Funktionen früher Textschichten des Papstbuches. Andrea Antonio Verardi (Rom) untersucht die historischen und ekklesiologischen Implikationen der frühen Überlieferungsgeschichte (37–51). Matthias Simperl (Augsburg) schlägt in seinem Beitrag ein gegenüber der traditionellen Rekonstruktion der Textgeschichte durch Louis Duchesne neues und vergleichsweise einfacheres Modell vor, das auch Rückwirkungen auf Datierungsfragen hat (52–77 [76 f.]). András Handl (Leuven) zeigt anhand der angeblich vorkonstantinischen bischöflichen Dekrete auf, dass eine be­wusste Strategie im Sinne der Verfolgung institutioneller Interessen für den frühen Abschnitt des »Liber pontificalis« nicht wirklich nachzuweisen ist: Der heterogene Charakter der gesamten Sammlung tritt so noch einmal neu in den Blick (78–94). Eckhard Wirbelauer (Straßburg) klärt in seinem Beitrag die Beziehungen zwischen den erhaltenen Dokumenten aus der Auseinandersetzung zwischen den römischen Bischöfen Laurentius und Symmachus im Jahre 501 und den einschlägigen Passagen im Papstbuch (95–108). Paolo Liverani (Florenz) untersucht den in die Vita des Papstes Silvester eingefügten Libellus der konstantinischen Schenkungen an die Kirche von Rom, ein Dokument über die Zuwendung von liturgischen Gefäßen und Gerätschaften und Besitztümern, die Konstantin verschiedenen Basiliken innerhalb und außerhalb Roms zugewiesen hatte (109–156). Stefan Heid (Rom) bietet die seit Harnacks Arbeit von 1897 erste neue Untersuchung über die Weihestatistiken, die der »Liber pontificalis« für jeden Pontifikat vom 1. bis zum 9. Jh. verzeichnet, und macht dabei (neben eindrucksvollen statistischen Erhebungen) auf signifikante Veränderungen in der Geschichte der Weihepraxis aufmerksam (157–217).
Das zweite Kapitel versammelt unter der Überschrift »Von der urbs zum orbis – Quelle und Erinnerungsträger« Aufsätze von Rosamond McKitterick (Cambridge), Lidia Capo, Vera von Falkenhausen (beide Rom), Bruno Bon und François Bougard (Paris), Veronika Unger (Mainz/Erlangen), Carola Jäggi (Zürich) und Mi­chael Brandt (Hildesheim). Hier werden Fragen nach der Verbreitung des »Liber pontificalis« und nach seiner Verwendung und Archivierung bearbeitet, seine Darstellung der griechischen römischen Gemeinde im Frühmittelalter untersucht und sein Wert als Quelle auch für materiale Hinterlassenschaften beleuchtet, sowohl anhand eines Forschungsüberblicks als auch durch eine detaillierte Fallstudie.
Das dritte Kapitel des Bandes widmet sich Fragen des Kontextes und der Rezeption. In ihm setzt Michel Sot (Paris) den »Liber pontificalis« in Beziehung zu den »Gesta episcoporum« (369–380), Knut Görich und Stephan Pongratz (beide München) stellen einen Vergleich mit den »Gesta pontificum Romanorum« des Kardinals Boso (12. Jh.) an (381–396) und Thomas Kieslinger (Erlangen) untersucht die Benutzung des »Liber pontificalis« und des »Liber censuum« bei der Erstellung einer hochmittelalterlichen Papstliste (397–414). Be­sonders beeindruckt der Aufsatz von Stefan Bauer (London) über die Rezeption des »Liber pontificalis« im »Liber de uita christi ac omnium pontificum« des Humanisten Bartolomeo Sacchi (Platina) in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s, die dann, auch dank zahlreicher späterer Übersetzungen in »moderne« Sprachen, zu dem Standardwerk der Papstgeschichte schlechthin wurde (415–434) und in ganz eigener Weise das Erbe des »Liber pontificalis« antrat und weitertrug.
Im Schlusskapitel finden sich ein die Forschungsgeschichte erhellender Aufsatz aus der Feder von Andreas Sohn (Paris) über die lange dominierende Ausgabe des »Liber pontificalis« von Louis Duchesne (437–457) sowie ein kleiner, aber sehr kundiger Ratgeber zum Umgang mit den verschiedenen Editionen des »Liber ponti-ficalis« von Matthias Simperl (458–481). Wie bei manch anderem überlieferungsgeschichtlich komplizierten und komplexen Werk der spätantiken und mittelalterlichen Literaturgeschichte empfiehlt es sich auch hier, die verschiedenen Ausgaben komplementär zu benutzen, die jeweils im Hintergrund stehenden Rekonstruk-tionshypothesen zu berücksichtigen und in Zweifelsfällen die Handschriften zu konsultieren.
Die dankenswerterweise angefügte, vorbildlich kategorisierte Auswahlbibliographie (481–491) ist ein gutes Hilfsmittel für alle weiteren wissenschaftlichen Bemühungen um den »Liber pontificalis«, die, wie zu hoffen und auch zu erwarten ist, durch den vorgelegten Band Anregung und Inspiration erfahren werden.
Auch wenn die Mehrheit der Beiträge in deutscher Sprache verfasst bzw. ins Deutsche übersetzt worden ist, folgt der Band der in letzter Zeit wieder verstärkt zu beobachtenden, begrüßenswerten Tendenz, an der Vielfalt der europäischen Wissenschaftssprachen festzuhalten, indem er einige Aufsätze in ihrer italienischen bzw. französischen Ausgangssprache abgedruckt hat.
Schließlich ist anzumerken, dass der Band nicht nur eine wissenschaftliche Fundgrube von hohem Wert, sondern dank der zahlreichen qualitativ hochwertigen Abbildungen auch ein ausgesprochen ansehnliches, schönes Buch geworden ist. Dabei hat das Insistieren auf guter Qualität offensichtlich keine Verzögerungen bei der Fertigstellung verursacht: Dass die Herausgeber innerhalb von nur zwei Jahren nach Abschluss der römischen Fachtagung den Band bereits der interessierten Öffentlichkeit übergeben konnten, ist heutzutage alles andere als selbstverständlich und verdient eigens hervorgehoben zu werden.