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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1208-1210

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Beier, Julia Catharina

Titel/Untertitel:

Die Sünde als Strukturprinzip der Dichtung »De spiritalis historiae gestis« des Alcimus Ecdicius Avitus. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 264 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 55. Geb. EUR 88,00. ISBN 9783374067534.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Die Monographie von Julia Catharina Beier ist die überarbeitete Fassung ihrer an der Universität Bonn eingereichten Dissertationsschrift. Sie befasst sich mit der Dichtung »De spiritalis historiae gestis« (SHG) des burgundischen Bischofs Alcimus Ecdicius Avitus, dessen Lebenszeit sich nicht mehr genau bestimmen lässt. Er starb wahrscheinlich vor 519 als Bischof von Vienne im ersten burgundischen Königreich. Sein in Hexametern verfasstes Epos knüpft an die paganen Epen römischer Provenienz wie etwa die Aeneis des Virgil an, versucht diese durch die epische Gestaltung biblischer Geschichte der Bücher Genesis und Exodus zu übertreffen, sprengt dabei aber durch zahlreiche auktoriale Eingriffe, Belehrungen und Ermahnungen den Gattungscharakter. In einer ausführlichen Einleitung beschreibt B. den Forschungsstand, methodische Überlegungen, das Problem der Gattungsbestimmung der SHG, das Zielpublikum vor dem Hintergrund des soziokulturellen und politischen Umfelds des Avitus, bevor sie näher in zwei Durchgängen auf das Werk im Einzelnen eingeht und ihre Ergebnisse abschließend zusammenfasst. Ihre Grundthese ist, dass Avitus die Sünde als Strukturprinzip seines Werkes wählt, Zerstörung und Wiederaufbau einer von Gott geschaffenen sinnvollen Ordnung ( ordo) durch die fünf Bücher des Epos als Grundstruktur des Gesamtwerkes im Einzelnen am Text verfolgt und dabei typologisch Texte aus dem Neuen Testament, die den strukturellen Ansatz stützen, hinzuzieht. Dies belegt B. in intensiver Arbeit am lateinischen Text. Häufig wird der lateinische Text auch wörtlich zitiert, wobei längere Passagen zusätzlich zu erläuternden Paraphrasen in den Fußnoten übersetzt werden.
Die eigentliche Analyse des Textes beginnt im 2. Teil. B. untersucht darin nach Anmerkungen zur Überlieferungsgeschichte das Verhältnis der fünf Bücher des Werkes, Buch für Buch, zu Bibeltext sowie Erzählstruktur und Stil der einzelnen Bücher. Als Bibeltext legt sie in der Regel die Vulgata zugrunde, den Text, der auch Avitus vertraut war. Deutlich wird, dass der Bischof keine geschlossene Wiedergabe des Bibeltextes in epischer Form bietet, sondern nur bestimmte Passagen aus den Büchern Genesis und Exodus auswählt, den Erzählverlauf durch Exkurse durchbricht und durch typologische Bezüge zum Neuen Testament seine Hauptintention, alles dem Thema »Heilsgeschichte« unterzuordnen, verdeutlicht. D ie ersten drei Bücher behandeln hauptsächlich den Sündenfall, das erste die Schöpfung, das zweite den Sündenfall, das dritte den Urteilspruch Gottes. Schon die Thematik zeigt die enge Zusammengehörigkeit und Verbundenheit der drei Bücher. Das vierte Buch schließlich widmet sich der Sintflut, wobei Avitus von der reinigenden und strafenden Kraft des Wassers dann später heilsgeschichtlich Bezüge zur Taufe herstellt. Das fünfte Buch schließlich verlässt die Genesis und springt sozusagen in das Buch Exodus. Hier stellt der Bischof den Auszug aus Ägypten und den Durchzug durch das Rote Meer dar. Akribisch geht B. Buch für Buch durch den Text und vergleicht ihn mit dem Text der Vulgata, analysiert auch Bezüge oder Anleihen bei der paganen Epik und verzeichnet jede Abweichung vom Bibeltext und deren jeweilige Aussageabsicht.
Bereits das Proömium beginnt mit einer Anklage Adams ob seiner Sündhaftigkeit, erst danach setzt Avitus mit der Schöpfung ein. Abweichend vom biblischen Text wird die Gottebenbildlichkeit im ersten Buch näher spezifiziert. Die Wunde, die Adam bei der Er­schaffung der Frau in Gen 2 zugefügt wird, wird typologisch mit derjenigen von Jesus am Kreuz verbunden. Das aus Jesu Wunde ausströmende Wasser wird als Zeichen eines »vivum lavacrum« gedeutet, was wiederum einen Bezug zum Ende des Werkes schafft, wo der Durchzug durch das Rote Meer ebenfalls mit dieser Typologie assoziiert wird. Besonders deutlich wird die episch breite Ausführung im Vergleich zum Bibeltext im zweiten Buch, wo durch eine Erweiterung der biblischen Erzählung einerseits die menschliche Schuld, zunächst Evas, dann Adams einerseits verstärkt wird, andererseits die Schlange als Inkarnation des Teufels dargestellt wird und damit ja eigentlich die Verantwortung des Menschen für die Sünde gemindert wird.
Für das dritte Buch hebt B. besonders die Lichtmetaphorik hervor, die auch sonst eine Rolle spielt, wobei Helligkeit mit dem Paradies, Dunkelheit mit der Erde verbunden wird, dem Menschen vor und nach dem Sündenfall ein unterschiedliches Empfinden von Licht und Dunkelheit zugeordnet wird. Avitus hält sich insgesamt nicht nur durch seine Typologien wie etwa den Bezug von Adams zu später Reue auf Lk 16,19–31, der Erzählung vom reichen Mann und dem armen Lazarus, nicht an die biblische Reihenfolge, sondern auch durch häufige Prolepsen wie die des Todes Abels als Beispiel der Strafe des Todes bzw. der Sterblichkeit, die er in das Strafurteil Gottes als Wirkung auf die nächste Generation einfügt. B. beschließt den 2. Teil mit einem mehrfach untergliederten Unterkapitel durch eine Reflexion der exegetischen Traditionszusammenhänge und der theologischen Leitlinien der SHG. Dabei analysiert B. vor allem Avitus’ Abhängigkeit von Augustinus. Die Anlehnung an die »Ursünden- oder Erbsündenlehre« Augustinus’ wird schlüssig entfaltet. In dem Zusammenhang wird in der Junktur zwischen dem naturale malum und den Geburtsschmerzen der Frau in der Urteilsverkündung Gottes ein Rückgriff des Avitus auf Ovids Metamorphosen aufgezeigt. Interessant ist das Menschenbild des Avitus, das sich auch in Anlehnung an Augustinus von der Gottebenbildlichkeit entfernt und sich bis zu seiner Neuschöpfung den Tieren annähert.
B. weist nach, dass Avitus zwar gegen Faustus von Riez und dessen Semipelagianismus deutlich Position bezieht, dies aber nicht durchhält, so dass die Gnade Gottes durchaus auch durch menschliches Verhalten verdient werden kann. B.s Hinweis, dass auch Augustinus seine Theologie in dieser Hinsicht modifizierte, be­dürfte näherer und besser belegter Ausführungen. Avitus’ Be-mühen, dem Rezipienten seine theologische Botschaft durch Beispiele aus der Bibel, paganer Mythologie und Lebenspraxis zu veranschaulichen, wird von B. ausführlich dargelegt. Im 3. Teil wird die Sünde als Strukturprinzip der Dichtung noch einmal konzentriert und vertieft als wesentliches Element der Theologie des Avitus dargestellt. Dabei ist es eine Stärke der Monographie, durch intensive Arbeit am lateinischen Text die Grundthese überzeugend, vorbereitet durch die im 2. Teil gebotene Textanalyse, darzustellen und in Auseinandersetzung mit der teilweise anders strukturierenden Sekundärliteratur noch einmal schlüssig zu entfalten. Breit be­rücksichtigt B. dabei auch die Briefe des Avitus als Quellen und zeigt, dass er situationsbedingt seine Positionen modifiziert. Auch die Stilanalysen B.s, vor allem der Verwendung juristischer Sprachmuster bei Avitus, sind hervorzuheben.
So gibt B. ein interessantes und aufschlussreiches Bild spätantiker theologischer Reflexion in Auseinandersetzung mit Semipelagianismus und Homöertum.