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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1191-1193

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wolters, Al

Titel/Untertitel:

Proverbs.A Commentary based on Paroimiai in Codex Vaticanus.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2020. VI, 292 S. = Septuagint Commentary Series. Geb. EUR 121,00. ISBN 9789004425583.

Rezensent:

Hermann von Lips

Hier liegt die Rezension eines Kommentars des emeritierten niederländisch-kanadischen Philologen Al Wolters vor. Der Fokus des Kommentars ist gerichtet auf semantische und grammatische Aspekte des griechischen Textes des Sprüchebuches. Die Studie ist in drei Teile geteilt: Am Beginn steht eine ausführliche Einleitung (1–13). Es folgt als Basis des Kommentars die Wiedergabe des griechischen Originaltextes (Codex B) und in englischer Übersetzung (15–123). Den Schwerpunkt bildet der Kommentar (124–273). Es schließen sich eine Bibliographie sowie Indizes moderner und antiker Autoren an (275–292).
I) Die Einleitung macht deutlich, wie intensiv sich W. mit seinem Thema befasst hat. Sie bringt verschiedene Aspekte, die zur Intention des Kommentars hinführen. W. betont dabei als Zielsetzung seiner Studie, eine fundierte Übersetzung zu liefern, wobei er sich an den lexikographischen Diskussionen anderer Übersetzer orientiert. Als Voraussetzung für sein Vorhaben fragt er nach dem originalen Text des Codex Vaticanus (B), den er unter Berücksichtigung späterer Korrektoren zu rekonstruieren versucht. Insgesamt stellt er zusammen, was forschungsgeschichtlich zum Sprüchebuch zu sagen und was bereits an Übersetzungen und Interpretationen dieses biblischen Buches zu finden ist. Das Erscheinungs-datum (2020) der Studie zeigt, wie aktuell die Übersicht der auf-genommenen Forschungen ist.
II) Der zweite Teil bringt überraschenderweise, parallel gesetzt, eine wörtliche Wiedergabe des Textes in seiner griechischen Urfassung und in englischer Übersetzung. Fragt man nach dem Sinn des erneuten Abdrucks, so sind beide Texte sui generis zu sehen: Der griechische Text ist kein generalisierter Text einer textkritischen Ausgabe (wie z. B. der von Rahlfs), sondern der spezifische Text der einen Handschrift des Codex Vaticanus (B) aus dem 4. Jh. Ähnliches gilt für die englische Übersetzung, wo z. B. an das Vorbild der Arbeit von Sir Lancelot Brenton aus dem Jahr 1851 (The Septuagint with Apokrypha: Greek and English) zu denken ist, die natürlich ihren individuellen Charakter hat. So hat jede Textform ihren Sinn und gute Berechtigung.
III) Der Kommentar beginnt mit einer Gruppe von Wörtern, die dem Proverbienbuch im Codex Vaticanus vorangestellt sind. Es sind Wörter, die (willkürlich) den Anfangskapiteln der Proverbia entnommen sind und von einem späteren Schreiber in den Freiraum zum Schluss des Psalmenbuches eingefügt sind. Die etwa zehn Wörter – mit Glossen versehen – entstammen dem »Wortfeld« sofia (Weisheit) und paroimiai (Sprüche) und stellen eine Art thematische Überschrift zum Sprüchebuch dar. Es folgt nun eine versweise Kommentierung des ganzen Sprüchebuches. Begonnen wird mit der Überschrift »Section 1: The Proverbs of Solomon (1,1–9,18d)«. Bezogen auf diese Anfangsverse werden diese gekennzeichnet als Salomo zugeschrieben, inhaltlich charakterisiert durch die Begriffe Weisheit und Erziehung. Adressiert an »mein[en] Sohn« (dieser Vokativ wird 31-mal bezüglich hye verwendet, in LXX häufiger als auf teknon) werden im Instruktionsstil ethische Mahnungen ausgeführt.
Zunächst wird als bemerkenswert herausgehoben die Wendung »strophas logon« (1,3). W. zitiert dann acht verschiedene (englische) Übersetzungen und macht deutlich, welch unterschiedlicher Sinn sich ergibt. Das hängt damit zusammen, dass kein eindeutiger Sinn zu erfassen ist, der Griechisch und Englisch eins zu eins wiedergibt. Er wählt »Windungen der Worte«, die anderen gehen in die Richtung von »gedreht, hart, fein, spitzfindig, krittelnd«. Die Wendung begegnet nur zweimal in der Bibel, 29-mal im TLG, d. h. patristisch und mittelalterlich. Interessanterweise findet sich die Wendung auch in den Sprüchen des Menander, aus dem auch Paulus in 1Kor 15,33 zitiert, der ein bekannter antiker Dichter war. Naheliegend also, dass auch hier ein Zitat des bekannten Dichters vorliegt, der die strittige Wendung verwendet. Im folgenden Vers 1,4 taucht das Wort panourgia auf, das in gegensätzlicher Bedeutung verwendet werden kann. Während es häufig in negativer Konnotation von Geschäftigkeit, Verschlagenheit erscheint, wird hier mit Besonderheit in positiver Konnotation auf die göttliche Weisheit gezielt.
Der zweite Teil von Kapitel 1 (1,20–32) thematisiert die personifizierte Weisheit. Hier diskutiert W. zunächst das Verb hymneitai in 1,20, ob es als Passiv von hymneo (die Weisheit »wird besungen«) oder als Medium in reflexivem (»besingt sich«) bzw. aktivem Sinn (»singt Lobgesänge«) verstanden wird. Er entscheidet sich für das Passiv. – In 1,22 wird diskutiert, ob emisäsan präsentisch (als gnomischer Aorist) oder als normaler griechischer Aorist zu verstehen ist.
Die personifizierte Weisheit wird wieder aufgenommen in Ka­pitel 8, wo in V. 3 dieselbe Formulierung (hymneitai) wie in 1,20 begegnet. Wie dort entscheidet sich W. für das Passiv (is celebrated), nicht für das Medium (so aber die Septuaginta Deutsch). In den folgenden Versen wird von der Erschaffung der Weisheit gesprochen. Überraschenderweise wird das Handeln Gottes mit »genna« präsentisch verstanden anstatt in Vergangenheit wie bei den anderen Schöpfungswerken (8,25). In 8,30 wird diskutiert, ob harmozousa transitiv (anpassen) oder intransitiv (harmonisieren) zu verstehen sei. In 9,1–3, wo die Weisheit in ihr selbst gebautes Haus einlädt, wird in den Übersetzungen unterschieden, ob ihre Gaben unbetont als »ihre« bezeichnet oder betont als »ihre eigenen« benannt werden. Unklar ist, wie in 9,3 die dann folgenden Aussagen in Verbindung mit der Einladung zum (Inhalt des metaphorischen) Mischkrugs verbal gekennzeichnet werden sollen (solemn proclamation).
Section 2 (10,1–22,16). Es folgt ein Abschnitt von »Sprüchen«, die in ihrer Art nicht Instruktionen sind (mit Anreden »mein Sohn« u. ä.), sondern unpersönlich formuliert als ethische Maximen. Vor allem Gegensatzsprüche sind hier typisch, z. B. in 10,6: Segen des Herrn auf dem Haupt des Gerechten – unzeitiger Gram verbirgt Mund der Gottlosen (bzw. Subjekt und Objekt getauscht). Siehe dann 10,12: gegensätzliche Wirkung von Hass und Liebe, wobei die Wirkung von Hass im Text sprachlich strittig ist ( neikos = Streit, oder: nikos = Sieg).
Section 3a (22,17–24,22 als Teil von Sektion 3 = 22,17–30,33) »Words of the Wise«. In 22,26 ist die Übersetzung strittig beim Text nach »biete dich nicht als Bürge an«, ob eher »schüchtern vor anderen« oder »aus Respekt vor einer Person«. Mit wem soll man nach 23,6 nicht zum Mahl sitzen, mit einem »neugierigen«, einem »verleumderischen« oder einem »eifersüchtigen« Mann – so vielschichtig ist das Adjektiv baskanos.
Section 5 (31,10–31) »A Valiant Woman«. Der kürzeste, thematisch festgelegte Abschnitt. Es ist strittig, ob die Frau (31,10) mit andreios wörtlich als »männlich« im Sinne von tapfer oder bildlich als mutig, beherzt verstanden wird. In 31,20 wird doppelsinnig formuliert, indem mit einem Lexem (karpos) zwei Inhalte benannt werden können: einem Armen »die Hand« oder »eine Frucht« reichen. In 31,22 macht die Hausfrau Mäntel für ihren Mann, wobei dissas unklar ist. Nach der griechischen syntaktischen Regel ist hier nicht »doppelt«, sondern »zwei« zu übersetzen.
Die vorliegende Arbeit ist eine diffizile Studie, die für jeden, der sich intensiv mit den »Sprüchen Salomos« beschäftigen will, ein wichtiges und lohnendes Arbeitsmittel ist.