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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1159-1162

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Idriz, Benjamin

Titel/Untertitel:

Der Koran und die Frauen. Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. 190 S. Geb. EUR 18,00. ISBN 9783579014630. Sonderausgabe 2021. Kart. EUR 12,00. ISBN 9783579062808.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kelek, Necla: Die unheilige Familie. Wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet. München: Verlagsgruppe Droemer Knauer 2019. 330 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 9783426278123.


Ist es nun ein Vorzug des Christentums oder ein Makel – die Sache mit der Frau aus der Rippe des Mannes? Der Koran korrigiert: Mann und Frau seien aus »einem einzigen lebenden Wesen« er­schaffen worden (Sure 4,1). Darin kann man eine Betonung der Gleichheit (nicht: Gleichberechtigung) der komplementären Ge­schlechter im Koran sehen (Idriz, 84 f.) oder die Festschreibung der Dominanz des Mannes, zu dem die Frau nur das ergänzende Ge­genstück ohne eigenständiges Wesen ist, sie also nur im Zusammenhang mit dem Mann gedacht werden kann (Kelek, 90 f.). Nur ein kleines Beispiel, wie nicht nur die Selektion aus vorhandenen Daten, sondern auch die Deutung derselben Daten zu konträren Sichten führen kann. Zum Thema Frau im Islam werden extrem unterschiedliche Perspektiven vertreten, die Lektüre beider Bücher neben- oder nacheinander lässt besser verstehen, warum das so ist, gibt dazu Hintergründe, erhellt Argumentationsmuster, fördert den differenzierten Blick auf Fakten und den unterschiedlichen Umgang mit ihnen.
Was Benjamin Idriz für die Sache der Frauen vorbringt, ist im Kontext konservativer muslimischer Diskurse mutig (wie er selbst feststellt, 8). Die These: Die Intention des Korans besteht darin, Normen und Verhältnisse zugunsten der Frau aufzubrechen und zu reformieren. Dieser Entwicklungsprozess zum Besseren durch den Koran »ist aber nicht abgeschlossen« (11). I. plädiert daher für den idschtihad, die vernunftgemäße Rechtsfindung innerhalb des vom Koran vorgegebenen Rahmens, die es ermöglicht, die je notwendigen neuen Impulse zu setzen und nicht in starrer Traditionsfixierung zu verharren (12). Der Koran ziele auf die Würde des Menschen, auf Emanzipation der Frauen. Es seien die patriarchale Rhetorik des Korans und kulturelle Faktoren, die frauenfeindliche Diskriminierung und Abwertung begünstigten. Um einen gleichberechtigten Dialog zwischen Männern und Frauen zu erreichen, müssten die Überlieferungen (Hadithe, Sunna) kritisch gesichtet werden. Was nicht mit dem Koran übereinstimme, sei nicht authentisch und nicht zu beachten. (Eine grundsätzliche schariarechtliche Frage, ob der Koran das Maß für das Verständnis der Sunna ist oder umgekehrt, wie seit asch-Schafi‘i die Mehrheit der Muslime glaubt.) Für muslimische Männer sei Selbstkritik »verpflichtend« (13).
Also durchaus ein reformerischer Ansatz, dessen Problembewusstsein auf langjähriger Erfahrung auch im Dialog beruht und zu klaren Diagnosen kommt. Dass eine historisch-kritische Lesart des Korans explizit abgelehnt, implizit aber doch angewandt wird (48 u. ö.), ist der komplizierten Diskussionslage zu dem Thema geschuldet, in der sich I. bewusst auf die Seite der »Gläubigen« stellt. Durch die Einbeziehung der menschlichen Vernunft als »Komponente« der Offenbarung (49) ist der kritische Umgang mit der Tradition in den »gläubigen« Diskurs eingebunden. Auf dieser Basis kommt I. zu weitreichenden positiven Feststellungen, etwa: Der Koran (»als einziges Buch Gottes«, 32) will die Einehe, ist gegen die Ehe mit Minderjährigen, erlaubt mitnichten das Schlagen der Frau (Sure 4,34 heißt »trennt euch für eine Weile«, 100), und »selbstverständlich« hat jede Frau die Freiheit, ihren Lebensgefährten frei zu wählen (106). Denn der Koran strebt in allem in erster Linie nach Gerechtigkeit.
So ist in den sechs Kapiteln – denen ein ausführliches und persönlich gehaltenes Vorwort vorausgeht – häufig von Gleichheit, Gleichbehandlung, ja auch Gleichberechtigung die Rede. Wenn es freilich von der guten Theorie zur gelebten Praxis kommt (69), wird es sehr dünn. Und man reibt sich die Augen, dass dann nicht (auch) die islamisch geprägten Länder kritisch unter die Lupe genommen werden, sondern gleich nach Deutschland gesprungen wird, oder Europa, oder Missstände auf andere Religionen und Traditionen zurückgeführt werden (129.141 u. ö.).
Exemplarisch für die teilweise gewundene und mehrdeutige, teilweise irreführende Darlegung ist das Kapitel zur »Bedeckung« als Pflicht (143 ff.). Hier zählt plötzlich die Sunna, weil der Koran eben keine klare Vorgabe macht. Geradezu unredlich sind Passagen, die die Pflicht für die Frau und (»natürlich auch«) für den Mann erläutern, die Judentum und Christentum falsch und irreführend heranziehen (148, Anm. 10), die von einer »Empfehlung« für Frauen sprechen oder davon, die Entscheidung sei den Frauen überlassen. Hier wird der religionsgesetzliche Gebotscharakter gezielt verschleiert, ebenso wird der ganze Bereich ausgeblendet, dass gerade die Bedeckung eine besondere Markierung der Weiblichkeit bedeutet (Sexualisierung).
Die Wirklichkeit, wie sie in islamisch dominierten Regionen vorherrscht, wird nicht ernsthaft thematisiert, an manchen Stellen sogar billigend hingenommen. Wenn es um konkrete Veränderungen geht, werden Forderungen sehr vorsichtig vorgebracht (129 ff.: es kann durchaus Imaminnen geben, aber im Grunde ist der Wunsch auch von Frauen danach nicht so groß, Frauen sind mit dem Status quo »vertraut« und doch eher für Sauberkeit und Ordnung zuständig). Es fehlt auch eine Reflexion über das Verhältnis von eigener (quasi privater) Meinung und deren religionsgesetzlicher Relevanz. Der lapidar vorgetragene Ansatz »Koran sticht Sunna« hat ja grundsätzliche theoretische und praktische Implika-tionen. Nun kann man (persönliche) Meinungen vertreten, auch wenn sie unter der Hand ein maßgebliches Traditionswerk wie den »Sahih Buchari« für unzuverlässig erklären (113 f.). Behauptungen, die nicht weiter belegt werden, können auch weitgehend sein, wirken jedoch arbiträr. Die positiven Bezugnahmen auf Protagonisten aus dem Muslimbruderschaftsumfeld (Qaradawi, Auda) tragen schließlich nicht dazu bei, das Vertrauen in den Umsetzungswillen im Blick auf die konkreten Lebenswirklichkeiten zu stärken.
Fazit des Rezensenten: Die Probleme werden gesehen und be­schrieben, die Empfehlungen gehen teils weit, zielen aber immer auf ein koranisches Ideal, das durch die Realität wenig gedeckt wird.
Das ist nun der Ansatzpunkt von Necla Kelek. Die Soziologin und Migrationsforscherin analysiert die Lebenswirklichkeiten muslimischer Mädchen und Frauen im Kontext des »orientalisch-islamischen Familiensystems«, also mit einem breiteren Fokus, und setzt die Schicksale – die sie in zehn eingeflochtenen »Familiengeschichten« aus ihrer Feldforschung exemplarisch zur An­schauung bringt – in Beziehung sowohl zu Traditionen und Idealen im Is-lam als auch zu Rechten und Werten in der freiheitlich-demokra-tischen Gesellschaft. Ihr zentrales Anliegen ist das Empowerment von Frauen, die Durchsetzung von Frauenrechten, die Stärkung von Selbstständigkeit (18). Dazu ist aus ihrer Sicht das Verhältnis zur Gewalt in der muslimischen Gesellschaft nachhaltig zu problematisieren. Eine neutrale Diskussion über kulturelle Differenzen ist nicht möglich, der Rassismus- oder Islamophobievorwurf schnell bei der Hand. Die notwendige »Delegitimierung der Männerherrschaft« stößt auf vielfältigen und massiven Widerstand, und zwar nicht nur von muslimischen Konservativen, sondern auch von Seiten der Sozial- und Migrationswissenschaften sowie feministischer Perspektiven (Genderstudies). Notwendig ist die Debatte dennoch. Und K. nimmt sie kämpferisch auf und kein Blatt vor den Mund. Sie ordnet ihren Stoff in fünf Teile und 13 Kapitel. Der Teil über die Rolle der Frau im Islam enthält historische Betrachtungen, kritische Perspektiven auf die Tradition und geht etwa auch auf Max Webers Sicht des Islam ein (»Herrenreligion«). Sie widerspricht der Sicht, der Islam habe die Frauenrechte befördert und Frauen befreit, vielmehr seien Frauen durch den Islam in die Rolle gezwungen worden, die bis heute das Geschlechterverhältnis bestimme. Dies beschreibt sie als »Katastrophe« und »perfides System«, die Rolle der Frau als »Knechtschaft«, »Gefängnis« und anderes mehr. Sie sieht den sozialen Druck zur Heirat kritisch sowie arrangierte Ehe und Zwangsehe sehr nah beieinander. Die häufig frühe Verheiratung nehme den Mädchen und Frauen die Möglichkeit der freien Selbstentfaltung. Sie untermauert die Problematik mit Zahlen und veranschaulicht die Praxis z. B. mit dem Blick auf eine unabhängige Frauen-Kooperative gegen Kinderehen in Van (Ostanatolien). Polygamie inklusive der Problematik, diese nachzuweisen (z. B. Imam-Ehen), ist ein Thema, aber auch die Verwandtenehe, die es aufgrund der zu wahrenden Familienverhältnisse häufig gibt und die auch hierzulande ein Tabuthema ist. Hinsichtlich der Kinderrechte geht es um das Kopftuch (nicht Glau bensäußerung, sondern »Fahne des politischen Islam«, 162) als Instrument zur Kontrolle und Herrschaft über die Mädchen, wie auch um Genitalverstümmelung und Jungenbeschneidung. Letztere wird unter dem Aspekt Recht auf körperliche Unversehrtheit ebenso kritisiert wie die weibliche Beschneidung. Immer ist der Schutz der persönlichen Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums im Blick. Da dies grundsätzlich in Spannung zu den Wertvorstellungen des gruppenbezogenen Weltbilds steht, in dem der Mensch primär Sozialwesen ist und vom Einfluss des Kollektivs bestimmt wird, ordnen sich die Konfliktthemen entlang dieser Linie an. Von hier aus wird der Bezug zum heutigen Alltag hergestellt, werden soziologische Hintergründe erläutert, integrationspolitische Entwicklungen und aktuelle Forschungsperspektiven kritisiert (Naika Foroutan, Werner Schiffauer, Christina von Braun u. a.), rechtliche Fragen aufgegriffen, konkrete Vorschläge zu Konfliktlösungen und zur Verbesserung der Lage der Frauen ge­macht. Im Mittelpunkt der – hier nicht ausreichend differenziert wiedergegebenen – kritischen Sichtungen stehen immer wieder das Problem der autoritären dysfunktionalen Familienstrukturen mit starkem Machtgefälle, Abhängigkeitsstrukturen, Klima der Angst, Geschlechterapartheid, Gewalt, Ehrvorstellungen.
Bei der Differenzierung von Kultur und Religion fehlt freilich Tiefe und Klarheit. Das Theologische liegt K. fern und wird wenn, dann nur kritisch rezipiert. Da gibt es auch Fehler und mangelnde Wahrnehmung. Allerdings ist K. im Blick auf ihre Herkunft, ihren Standpunkt und ihr Vorgehen auch völlig transparent (Prolog, 94 ff. 238 u. ö.). Man muss ihr nicht in allem folgen, die Reduktion der Themen auf ihre jeweils negativsten Seiten und Auswirkungen kann als unbefriedigend empfunden werden, dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass K. nicht pauschal über »die« Einwanderer oder »die« Muslime spricht, sondern Ross und Reiter jeweils benennt und den Kontext herstellt, in dem sie argumentiert. Nicht jede Kulturausprägung ist per se »gut«, die Romantisierung von Kultur oder Familie führt zu keiner tragfähigen sozialen Basis. Wer die Spannbreite des aktuellen Diskurses differenziert zur Kenntnis nehmen will, sollte beide Titel lesen.