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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1155-1157

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fouad, Hazim

Titel/Untertitel:

Zeitgenössische muslimische Kritik am Salafismus. Eine Untersuchung ausgewählter Dokumente.

Verlag:

Baden-Baden: Ergon Verlag (Nomos) 2019. 389 S. = Bibliotheca Academica. Orientalistik, 30. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783956506284.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Hazim Fouad beschäftigt sich in seiner Promotionsschrift mit in­nerislamischer Kritik am Salafismus. Er möchte damit die häufig aufgeworfene Frage beantworten, warum die muslimische Mehrheit sich nicht dezidierter von salafistischen Stimmen distanziert, wenn sie doch Akteuren und Gedankengut mehrheitlich kritisch gegenübersteht. F. schildert die Debatten derjenigen Protagonis-ten, die theologisch, schariarechtlich, politisch, historisch, soziologisch, persönlich oder polemisch gegen den Salafismus Stellung beziehen. Er konzentriert sich hauptsächlich auf ägyptische Stimmen, bezieht aber auch einzelne Akteure aus Saudi-Arabien, Jordanien und Syrien mit ein und erschließt eine Fülle wenig bekannter und vielen kaum zugänglicher arabischsprachiger Quellen.
Die Studie ist in fünf Kapitel gegliedert: Nach einer Hinführung zum Thema (Kapitel 1) und Überlegungen zur Anwendbarkeit der These Huntingtons vom »Kampf der Kulturen« auf die innerislamische Debatte zum Salafismus widmet sich Kapitel 3 einer Verortung des Salafismus in der islamischen Geistesgeschichte, seinen Vorläufern sowie seiner Entstehungsgeschichte. Während einerseits in der islamwissenschaftlichen Forschung weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass der Salafismus eine Erscheinung des 20. Jh.s ist, bestehen unterschiedliche Ansichten darüber, inwiefern namhafte Theologen der Vormoderne als geistige »Väter« der Bewegung gelten können, da sie Teile des salafistischen Ideengebäudes bereits formuliert hatten. Die Frage ist, ob sich daraus eine gewisse Kontinuität der Theologie von der Zeit des Frühislam bis heute oder aber eine Wiedergeburt früherer Ideengebäude konstruieren lässt. F. betont zu Recht, dass trotz des Vorhandenseins mancher salafistischer Überzeugungen in der Vergangenheit keine vormoderne Bewegung existiert, aus der der Salafismus in den 1970er Jah ren unmittelbar hervorging. Andererseits ist für ihn unstrittig, dass es sich beim Salafismus um eine islamische Bewegung handelt, deren Auslegung zwar von der muslimischen Mehrheitsmeinung abweicht, dass sie aber nicht außerhalb des Islam zu verorten ist – was dann konsequenterweise auch für den Jihadismus zu gelten hat. Gewalt im Namen des Islam ist ebenso, wenn auch nicht ausschließlich, unter Einbeziehung theologischer Beweggründe zu deuten. Daher macht F. hinter die Auffassung, dass es sich beim Salafismus vorrangig um eine Politideologie handelt – womit die theologische Komponente der Bewegung ausgeklammert wird –, zu Recht ein Fragezeichen.
Das umfangreiche Kapitel 4 bildet das Kernstück der Studie: eine umfangreiche und detaillierte Darstellung der innermuslimischen Kritik am Phänomen des Salafismus seitens der Vertreter unterschiedlicher theologischer Lager. Für eine Systematisierung dieser Kritik schlüsselt F. die Verlautbarungen traditionalistischer, sufischer (mystischer) und modernistischer Protagonisten auf. Dabei ergeben sich einerseits Schnittmengen mit salafistischen Überzeugungen, andererseits zahlreiche Gegensätze:
Traditionalistische Vertreter erkennen die vier sunnitischen Rechtsschulen sowie den taqlīd an (die Nachahmung der Rechtsentscheide einer dieser vier Rechtsschulen); für sie ist die Berech-tigung zu theologischen Urteilen an eine klassische Ausbildung gebunden. Darauf gründet für sie dann auch ein wesentlicher Kritikpunkt am Salafismus, dessen Vertreter unter Umgehung be-deutender Theologen der Vorzeit ihre Argumentation direkt aus Koran- und Überlieferungstexten ableiten wollen, aber nur sehr selten über eine theologische Ausbildung verfügen. Damit besitzen Salafisten aus Sicht der Traditionalisten keinerlei Berechtigung für autoritative Rechtsurteile. Auch kritisieren Traditionalisten die zahlreichen Verbote, die Salafisten erlassen, sowie deren Absolutsetzen der eigenen Meinung.
Allerdings existieren auch Bereiche, in denen sich Traditionalis-ten und Salafisten nur im Detail unterscheiden. So erkennen beide Gruppen die Berechtigung zum takfīr an (dem Erklären einer Person als Ungläubiger); die Traditionalisten verurteilen dabei aber die – aus ihrer Sicht – extensive Verwendung dieses Vorwurfs durch die Salafisten. Auch bei Apostasie befürworten beide Gruppen prinzipiell die Todesstrafe und begründen gleichermaßen die rechtlich benachteiligte Stellung der Frau, auch wenn Salafisten Frauen graduell noch mehr einschränken. Aufgrund dieser Schnittmengen scheuen Traditionalisten meist vor einer grundlegenden Verurteilung des salafistischen Spektrums zurück, da sie ihm inhaltlich recht nahe stehen (und weitaus näher als den Modernisten). So verurteilte zwar die al-Azhar das Wirken des sogenannten »Islamischen Staates«, hob dabei jedoch vor allem auf die fehlende Lehrbefähigung zur Erteilung von Fatwas (Rechtsgutachten) ab, bestritt aber nicht die prinzipielle Berechtigung zur Anwendung des Schariarechts im Strafrecht, etwa bei den Körperstrafen.
Die Kritik aus sufischer (mystischer) Perspektive am Salafismus richtet sich vor allem gegen die salafistische Auslegung von Koran und Überlieferung, die Salafisten in den – aus sufischer wie traditioneller Sicht häretischen – Anthropomorphismus treibe. Auch die sufischen Kritiker werfen den Salafisten deren fehlende theologische Bildung und Bindung an eine Rechtsschule vor sowie den daraus folgenden fehlgeleiteten Umgang mit Texten, bestreiten aber auch die Behauptung der Salafisten, eine auf den Urislam rückführbare Strömung zu sein. Einig sind sich dagegen Sufis und Salafisten bei der rigorosen Ablehnung westlicher Einflüsse wie etwa des Atheismus, Säkularismus, Kapitalismus oder Materialismus.
Die Kritik der Modernisten richtet sich grundsätzlich gegen die traditionelle Hermeneutik von Koran und Überlieferung, die für sie dem unbedingt notwendigen Brückenschlag zwischen Islam und Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechten im Wege stehen. Modernisten fordern eine grundlegende Neuorientierung der theologischen Ausbildung an den klassischen Lehranstalten und die Begründung eines zeitgemäßen Islam, der sich allein auf den Koran stützt und die Tradition als menschengemacht hintanstellt. Das Deutungsmonopol der theologisch ausgebildeten Traditionalisten lehnen Modernisten ebenso ab wie die Rechtsschöpfung der S alafisten direkt aus Koran und Überlieferung. Modernisten betrachten Salafisten als die eigentlichen Verursacher von Hass und Gewalt gegen Minderheiten und Nichtmuslime und als Urheber der Herabsetzung von Frauen. Mit ihren salafistischen Opponenten, die sie offen als doppelbödig und verlogen bezeichnen, haben zahlreiche Modernisten allerdings gemein, dass sie meist keine traditionelle theologische Ausbildung durchlaufen haben; dies stellt für sie jedoch kein Hemmnis auf dem Weg zur Versöhnung des Islam mit dem 21. Jh. dar.
F. hat eine große Menge an Material erschlossen und systematisiert. Die Studie bietet eine Fülle an Details, die die einzelnen Argumentationsketten weiter ausleuchten. Da es sich um eine islamwissenschaftliche Qualifikationsschrift handelt, wird aufgrund der zahlreich verwendeten Fachbegriffe und Nebenthemen den größten Gewinn der im Fach Islamwissenschaft Beheimatete haben. Sie ist für ihn wie für den im Thema Islam Bewanderten eine Fundgrube des Verständnisses der innerislamischen Diskussionslage rund um das Thema Salafismus.